Anhang 17

Charta der Europäischen Identität (28. Oktober 1995)

„Föderalismus als Leitidee für den europäischen Zusammenschluss blieb eine Illusion. Seine drei prominentesten Befürworter - die Christdemokraten Robert Schuman, Konrad Adenauer und in Italien Alcide de Gasperi - waren überdies noch katholisch. Böse Zungen redeten von einem ‚vatikanischen“ Europa, das sie angeblich planten, andere von einem ‚karolingischen‘ - also mittelalterlich-verstaubten - oder gar einem ‚teutonischen‘, stammten sie doch alle drei aus Regionen des alten Sacrum Romanum Imperium, die noch in ihrer Jugend von deutschen Kaisern aus Wien oder Berlin regiert worden waren.“ (Franz Ansprenger 2001: 237)

Angeregt durch den Präsidenten der Tschechischen Republik Václav Havel, der am 8. März 1994 bei seiner Ansprache vor dem Europäischen Parlament in Straßburg eine Charta der Europäischen Identität fordert, beschließt der 40. Kongress der EUROPA-UNION Deutschland am 5.11.1994 in Bremen, ein entsprechendes Dokument auszuarbeiten.

Zu diesem Zweck bildet die EUROPA-UNION eine Arbeitsgruppe, die vom 17.-19. Februar 1995 in Cursdorf einen Entwurf ausarbeitet. Nach Veröffentlichung des Entwurfs in der April-Ausgabe der Europäischen Zeitung und der öffentlichen Vorstellung des Textes bei einer Veranstaltung im Abgeordnetenhaus von Berlin am 6. Mai 1995, setzt innerhalb der EUROPA-UNION eine breite Diskussion ein, an der sich auch der Europäische Bund für Bildung und Wissenschaft und Mitglieder des Europäischen Journalisten-Verbandes beteiligen, in deren Rahmen über 500 Änderungsanträge eingehen.

In einer zweiten Tagung des Arbeitskreises am 9. September 1995 in Bonn werden diese Vorschläge geprüft und entsprechend in einer zweiten Fassung der Charta eingearbeitet.

Der 41. Kongress der EUROPA-UNION Deutschland vom 28. und 29. Oktober 1995 in Lübeck diskutiert den Entwurf erneut und nimmt ihn am 28. Oktober 1995 mit zwei Gegenstimmen ohne Enthaltung an.

Über Europäische Identität (Vorspruch von Václav Havel):

„Die Europäische Union beruht auf einem großen Ensemble zivilisatorischer Werte, deren Wurzeln zweifellos auf die Antike und das Christentum zurückgehen und die sich durch zwei Jahrtausende hindurch zu der Gestalt entwickelt haben, die wir heute als die Grundlagen der modernen Demokratie, des Rechtsstaates und der Bürgergesellschaft begreifen. Das Ensemble dieser Werte hat sein klar umrissenes sittliches Fundament und seine manifeste metaphysische Verankerung, und zwar ungeachtet dessen, inwieweit der moderne Mensch sich das eingesteht oder nicht. Man kann also nicht sagen, der Europäischen Union mangele es an einem eigenen Geist, aus dem alle ihre konkreten Prinzipien, auf denen sie beruht, hervorgegangen sind. Nur scheint es, dass dieser Geist zu. wenig sichtbar wird. So, als ob er sich hinter all den Bergen von systematisierenden, technischen, administrativen, ökonomischen, wechselkursregelnden und sonstigen Maßnahmen, in die er eingegangen ist, allzu gründlich verberge. Und so kann bei manchen Menschen der durchaus begreifliche Eindruck entstehen, die Europäische Union bestehe — etwas vulgarisierend formuliert — aus nichts anderem als aus endlosen Debatten darüber, wie viele Mohrrüben irgendwer irgendwoher irgendwohin ausführen darf, wer diese Ausfuhrmenge festlegt, wer sie kontrolliert und wer im Bedarfsfall den Sünder zur Rechenschaft zieht, der gegen die erlassenen Vorschriften verstößt. Deswegen scheint mir, dass die wichtigste Anforderung, vor welche die Europäische Union sich heute gestellt sieht, in einer neuen und unmissverständlich klaren Selbstreflexion dessen besteht, was man europäische Identität nennen könnte, in einer neuen und wirklich klaren Artikulation europäischer Verantwortlichkeit in verstärktem Interesse an einer eigentlichen Sinngebung der europäischen Integration und aller ihrer weiteren Zusammenhänge in der Welt von heute, und in der Wiedergewinnung ihres Ethos oder — wenn Sie so wollen — ihres Charismas. Eine Lektüre des Maastrichter Vertrags, wie hoch dessen Bedeutung als historisches Dokument auch anzuschlagen sein mag, dürfte der Europäischen Union gleichwohl kaum wirklich begeisterte Anhänger verschaffen oder vielmehr: kaum Patrioten in Gestalt von Menschen, die diesen komplizierten Organismus tatsächlich als ihr Vaterland oder ihre Heimat beziehungsweise eine Ebene ihres Heimatzugehörigkeitsgefühls empfinden. Soll dieses große Vertragswerk, das offensichtlich allen Europäern das Leben zu erleichtern bestimmt war, auf dem Prüfstand der vielfältigen Wechselfälle unserer Zeit tatsächlich dauernden Bestand haben, dann muss es noch weit wahrnehmbarer durch etwas anderes zusammengehalten werden als lediglich durch eine Struktur von Vorschriften und Normen ...

Begrüßen würde ich zum Beispiel, wenn die Europäische Union eine eigene Charta verabschiedete, die klar die Ideen zu definieren hätte, auf denen sie beruht, den Sinn, den sie hat, und die Werte, die sie zu verkörpern trachtet ...

Wenn die Einwohner Europas begreifen lernen, dass es sich hier nicht um ein bürokratisches Monstrum handelt, das ihre Eigenständigkeit einschränken oder gar leugnen möchte, sondern lediglich um einen neuen Typus menschlicher Gemeinschaft, der ihre Freiheit vielmehr wesentlich erweitert, dann braucht der Europäischen Union um ihre Zukunft nicht bange zu sein ...“

(Auszug aus der Rede des Staatspräsidenten der Tschechischen Republik am 8. März 1994 vor dem Europäischen Parlament in Straßburg)

CHARTA DER EUROPÄISCHEN IDENTITÄT

I. EUROPA ALS SCHICKSALSGEMEINSCHAFT

Europa ist eine Schicksalsgemeinschaft. Der europäische Zivilisationsprozess, wie er von unseren Vorfahren und uns in Gang gesetzt wurde, hat uns zu einer Entwicklungsstufe geführt, auf der alle voneinander abhängig sind. Wir können dieses gemeinsame Schicksal mit gestalten oder erdulden. Die Bewahrung des Friedens, die Erhaltung unserer Umwelt und die Organisation eines Lebens in Würde für alle erfordern eine gemeinsame Politik. Europa zu einigen heißt, die Antwort zu geben auf die historische Herausforderung der Gegenwart und die leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit. Jeder Europäer ist aufgerufen, am Aufbau einer europäischen Friedensgemeinschaft verantwortlich mitzuarbeiten.

II. EUROPA ALS WERTEGEMEINSCHAFT

Europa ist vor allen eine Wertegemeinschaft. Das Ziel des europäischen Einigungswerkes ist die Bewahrung, das Bewusstmachen, die kritische Überprüfung und die Fortentwicklung dieser Werte. Sie beruhen auf einem gemeinsamen Recht, in dem die Freiheit des Einzelnen und die Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft ihren Ausdruck gefunden haben. Die europäischen Grundwerte liegen in dem Bekenntnis zu Toleranz, Humanität und Brüderlichkeit. Aufbauend auf den geschichtlichen Wurzeln der Antike und des Christentums hat Europa im Laufe der Geschichte mit der Renaissance, dem Humanismus und der Aufklärung die überkommenen Werte weiterentwickelt. Dies führte zu einer demokratischen Ordnung, der allgemeinen Geltung der Grund- und Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit. Die in fruchtbarer Wechselwirkung entstandenen Schöpfungen der Kultur und der Kunst, die Entdeckungen der Naturgesetze und ihre Anwendung zum Wohle der Menschen, das kritische Denken im Erkennen und Urteilen haben bewirkt, dass die Menschen in freier Selbstbestimmung und ohne Not friedlich miteinander leben und arbeiten können. Europa hat diese Werte in der ganzen Welt verbreitet. So wurde unser Kontinent zur Mutter der Revolutionen in der modernen Welt. Europa hat seine eigenen Werte immer wieder in Frage gestellt und gegen sie verstoßen. Nach einem Zeitalter eines hemmungslosen Nationalismus1, des Imperialismus und des Totalitarismus sind die Europäer daran gegangen, Freiheit, Recht und Demokratie zum Prinzip ihrer zwischenstaatlichen Beziehungen zu machen. Damit wurde der Weg zu einer friedlichen und freiheitlichen Zukunft in Europa geöffnet. Die Spaltung unseres Kontinents hat verhindert, dass alle Staaten Europas hieran teilnehmen konnten. Die Vielfalt des europäischen Entwicklungsprozesses und die Notwendigkeit der schöpferischen Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft erfordern einen föderalen Aufbau unserer zwischenstaatlichen Ordnung, in der ein europäisches Gemeinschaftsgefühl und somit ein gemeinsames Bewusstsein der europäischen Identität entstehen kann. Die europäische Identität erfordert den freien Austausch von Personen und Ideen und findet ihren Ausdruck im gemeinsamen Schutz unserer Werte. Wichtige Schritte dazu sind die Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950, die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte von 1989 und die Schaffung einer europäischen Unionsbürgerschaft. Die Demokratie in der Europäischen Union muss für die Bürger erlebbar werden.

III. EUROPA ALS LEBENSGEMEINSCHAFT

Damit die Europäische Union zu einem Europa der Bürger wird, muss sie sich zu einer erfahrbaren Lebensgemeinschaft weiterentwickeln. Dem Bürger muss die Möglichkeit gegeben werden, stärker am europäischen Einigungsprozess mitzuwirken. Deshalb sind die demokratischen und föderalen Strukturen zu stärken und die einzelnen Entscheidungsmechanismen und Politikfelder transparenter zu gestalten. Bei entscheidenden Reformvorhaben müssen alle Bürger frühzeitig informiert und an öffentlichen Diskussionen beteiligt werden. Die Europäische Union bedarf dazu einer klaren und verständlichen Verfassung, in der Rechte und Pflichten der Bürger und Mitgliedstaaten eindeutig bestimmt, die Aufgaben und Funktion der Organe deutlich beschrieben sind und die es allen ermöglicht, sich die Grundwerte des gemeinsamen Europas zu eigen zu machen. Europa bedarf einer die europäische Identität fördernden Kultur- und Bildungspolitik in der Union und den Mitgliedstaaten. Durch sie sollen die gemeinsamen Wurzeln und Werte sowie die Vielfalt Europas bewusst gemacht werden. Ziel muss sein, Toleranz gegenüber anderen Menschen und Kulturen herauszubilden, die Bürger von der europäischen Idee zu überzeugen und sie zur Mitwirkung an der europäischen Einigung zu befähigen. Die Verständigung untereinander muss durch frühzeitiges Erlernen von Fremdsprachen bereits im Vorschulalter gefördert werden. In einem gemeinsamen Europa gilt es, die Unionsbürgerschaft so weiterzuentwickeln, dass alle Bürger in allen Mitgliedstaaten gleiche Rechte und Pflichten haben.

IV. EUROPA ALS WIRTSCHAFTS- UND SOZIALGEMEINSCHAFT

WIRTSCHAFT, SOZIALES, UMWELT

Nach zwei leidvollen Weltkriegen wurde in Europa die Chance einer grundsätzlich neuen Politik ergriffen. Der erste Schritt war die Gründung der Montanunion durch sechs Staaten, die die kriegswichtigsten Grundstoffindustrien einer gemeinsamen Autorität unterstellte. Darauf aufbauend entwickelte sich die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und schließlich die Europäische Union. Das führte zu einem inneren Frieden zwischen den Mitgliedsländern und zu einem Wohlstand, wie ihn noch keine Generation in Europa erleben durfte. Schmerzvoll war jedoch die Spaltung Europas. Das im Osten ein halbes Jahrhundert herrschende System ging schließlich an seinen inneren Widersprüchen zugrunde, auch weil dort wirtschaftliche Freiheit und Verantwortung des Einzelnen und der Unternehmen nicht möglich waren. Die Wirtschaft wurde zum Motor der europäischen Einigung. Gleichzeitig wird erkennbar, dass wirtschaftlicher Erfolg allein nicht ausreicht, um eine europäische Identität zu begründen. Trotz dieser Erfolge sind gegenwärtig Defizite erkennbar. Wirtschaft ist für die Menschen da, die soziale Zielsetzung der Ökonomie muss erkennbar sein. Zur europäischen Identität gehört eine vorbildliche Sozialgemeinschaft. die zu einer solidarischen Aufgaben-, Ressourcen- und Wohlstandsverteilung zwischen allen Teilen Europas führt. Vordringliches Ziel in der Europäischen Union ist die Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Das Steuersystem muss durchschaubar, einsichtig und in der Union angeglichen sein. Der Schutz unserer Umwelt und die Erhaltung der Natur und damit die Sicherung des gemeinsamen Lebensraumes sind zu einer zentralen Aufgabe Europas geworden. Europa — in dem die Industrielle Revolution begonnen hat — muss in der Umweltpolitik vorbildlich handeln und Initiativen ergreifen, damit durch weltweites Zusammenwirken die Erde auch für unsere Kinder lebenswert bleibt.

V. EUROPA ALS VERANTWORTUNGSGEMEINSCHAFT

In der heutigen Weltgesellschaft, in der wir alle voneinander abhängig geworden sind, trägt die Europäische Union eine besondere Verantwortung. Unser Kontinent ist wirtschaftlich und politisch mit vielen Regionen der Welt eng verbunden. Konflikte und Krisen innerhalb und außerhalb Europas bedrohen alle europäischen Staaten und Bürger gleichermaßen. Nur ein kooperatives, solidarisches und geeintes Europa kann wirkungsvoll mithelfen, Probleme in der Welt zu lösen. Ein Gegeneinander in der europäischen Politik wird der Verantwortung nicht gerecht und kann nur zum Chaos führen. Globale Verantwortung hat verschiedene Dimensionen. Sie bedeutet Mitwirkung bei der Konfliktverhinderung und Schlichtung im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Sie schließt aber auch handelspolitisch und ökologisch ein faires und hilfsbereites Handeln gegenüber anderen Weltregionen ein. Mit seiner friedlichen Integration und seinen Werten sollte die Europäische Union ein Beispiel sein. Hierzu gehören vor allem die Wahrung der Menschenrechte und der Schutz der Minderheiten. So wird Europa auch sein eigenes Erbe bewahren können. Es liegt im Interesse der Europäischen Union, den Staaten Mittel- und Südosteuropas, die sich zum gemeinsamen Europa und seinen Werten bekennen, den Weg in die Union zu öffnen und sie in ihren Beitrittsbemühungen zu unterstützen. Im Rahmen der Vereinten Nationen muss die Europäische Union eine größere Verantwortung für die friedliche Entwicklung der Welt übernehmen und in der Welt mit einer Stimme sprechen.

VI. AUF DEM WEG ZU EINER EUROPÄISCHEN IDENTITÄT

Damit aus diesen Zielen und einer überzeugenden praktischen Politik die europäische Identität wachsen kann, halten wir im Rahmen der Europäischen Union für unverzichtbar:

• eine knapp gefasste und verständliche Verfassung der Europäischen Union, die die gemeinsame föderale Ordnung, einen verbindlichen Katalog der gemeinsamen Grund- und Menschenrechte sowie Sozialrechte garantiert und den Bürgern der Europäischen Union zur Annahme vorgelegt wird;

• den weiteren Ausbau der Unionsbürgerschaft;

• eine gemeinsame Wirtschafts-, Währungs-, Sozial- und Umweltpolitik, deren oberstes Ziel sein muss, Arbeit für alle zu schaffen, und die unsere Erde vor weiterer Umweltzerstörung bewahrt;

• eine die europäische Identität fördernde Kultur- und Bildungspolitik der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten. die die Einheit in Vielfalt und die gemeinsamen Werte allen Bürgern vermittelt. Europäer ist man nicht von Geburt, sondern wird es durch Bildung;

• die Mehrsprachigkeit zu fördern. Alle Europäer müssen möglichst frühzeitig Fremdsprachen erlernen. Die Unionsbürger müssen sich verständigen können;

• eine Deklaration der politischen Ziele, die die Europäische Union anstrebt. Ohne das vielgestaltige Erbe zu beschädigen, muss die Europäische Union in der Welt eine gemeinsame Politik betreiben.

Freiheit, Friede, Menschenwürde, Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit sind unsere höchsten Güter. Um sie zu sichern und weiterzuentwickeln, braucht Europa eine moralisch überzeugende politische Gestalt und eine solidarische Politik, die den europäischen Gemeinsinn stärkt, die Europäische Union glaubwürdig macht und auf die wir Europäer stolz sein können. Wenn das erreicht ist, dann gibt es auch eine stärkere europäische Identität.


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  1. Albert Einstein: „Nationalism is an infantile disease. It is the measles of mankind.” (in: What Life Means to Einstein: An Interview by George Sylvester Viereck (26.10.1929) ↩︎