Anhang 4

Deklaration I und II des europäischen Widerstands (20. Mai 1944)

„Nichts als die Wahrheit kann uns frei machen.“ (Eugen Kogon 1974: 6)

Beide Deklarationen I und II sind ein Meilenstein in der Geschichte der Europäischen Föderalisten und gehören seit dem Wiedervereinigungskongress 1973 zu den Grundlagendokumenten der UEF.

Die Deklaration I wird am 20. Mai 1944 als „Botschaft der Solidarität“ der Deklaration II vorangestellt. Untenstehend finden Sie die von Walther Lipgens (1968: 392) um einen Appell an die Alliierten gekürzte Deklaration.

Auf der letzten gemeinsamen Sitzung des europäischen Widerstands am 6. und 7. Juli 1944 in Genf wird beschlossen, die Deklaration II nun auch als Manifest einer internationalen Öffentlichkeit vorzulegen ohne dabei noch auf die ausstehende Billigung einzelner Widerstandsbewegungen zu warten; gemäß Sergio Pistone (2018: 20) haben die Dänen und Norweger das Manifest nicht abschließend gebilligt. Sie wird auch als Genfer Deklaration bezeichnet und mit dem Titel ‚Projekt einer Deklaration über die europäische Zusammenarbeit.‘ versehen.

Als Unterzeichner werden Vertreter der Widerstandsbewegungen aus Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, Jugoslawien, den Niederlanden, Norwegen, Polen und der Tschechoslowakei genannt.

Die Deklaration II ist ebenfalls bei Walter Lipgens (1968: 393-398) zu finden.

Botschaft der Solidarität (Deklaration I)

Die Delegierten der unterzeichneten Widerstandsbewegungen, die am … [Datum soll später ergänzt werden] in einer Stadt in Europa zusammengetreten sind, senden allen, die in den Reihen des Widerstands der unterdrückten Völker kämpfen, in dem Augenblick, wo dieser Kampf seinem Höhepunkt zustrebt, den brüderlichen Gruß der von ihnen vertretenen Länder und erklären, dass dieser Kampf bis zur völligen Niederwerfung Hitlerdeutschlands und bis zur Befreiung Europas weitergehen wird. Sie ehren das Andenken der tausende von Patrioten, die bereits ihr Leben hingaben, weil sie die Knechtschaft ablehnten. …

Sie erklären, dass an allen Fronten des inneren Widerstands gegen den gemeinsamen Feind geführte heldenhafte Kampf nicht nur ein überzeugender Beweis ihrer Vaterlandsliebe und ihres Glaubens an das Neuerstehen ihrer Heimatländer ist, sondern dass all die der gemeinsamen Sache gebrachten Opfer und die dafür erduldeten Leiden auch Bande der Brüderlichkeit zwischen ihnen geschaffen und ein neues Bewusstsein der europäischen Solidarität der freien Völker zum Leben erweckt haben, deren Fortbestand ein wesentliches Unterpfand für den Frieden sein wird.

Sie erklären, dass die stillen, blutigen Opfer, die sie der Sache der Vereinten Nationen täglich bringen, ihren Ländern das recht geben, genau wie die übrigen siegreichen Länder am Aufbau des Friedens teilzunehmen.

Sie verpflichten sich deshalb, die engen Kontakte aufrechtzuerhalten, um die zwischen den Widerstandsbewegungen der von ihnen vertretenen Länder bereits geknüpften Bande noch enger zu gestalten und mit allen Mitteln im gemeinsamen Kampf und am Aufbau des Friedens zusammenzuarbeiten.

Manifest (Deklaration II)

I. Der Widerstand gegen die nationalsozialistische Unterdrückung, der die Völker Europas in einem gemeinsamen Kampfe verbindet, hat zwischen ihnen eine Solidarität sowie eine Gemeinschaft der Ziele und Interessen geschaffen, die ihre ganze Bedeutung und ihre ganze Tragweite in der Tatsache sich niederschlagen lassen, dass die Delegierten der europäischen Widerstandsbewegungen sich zusammengefunden haben, um die gegenwärtige Deklaration zu formulieren, in der sie ihre Hoffnungen und ihre Absichten im Hinblick auf die Zivilisation und den Frieden zum Ausdruck bringen wollen.

Die freien Menschen, die heute in den Widerstandsbewegungen sich zusammengefunden haben, sind sich dessen bewusst, dass der Kampf, der unermüdlich trotz Terror gegen die feindliche Kriegsmaschine auf der inneren Widerstandsfront geführt wird, einen wesentlichen positiven Beitrag zu dem Kampf darstellt, den die Vereinten Nationen führen. Gleichzeitig rechtfertigt dieser Kampf die teilnahem ihrer Länder am Aufbau des Friedens und am Wiederaufbau Europas in voller Gleichberechtigung mit den anderen siegreichen Länden.

Indem sie die wesentlichen Bestimmungen der Atlantik-Charta [14. August 19411] sich zu eigen machen, erklären sie, dass das Leben der Völker, die sie vertreten, auf die Achtung der Person, die Sicherheit, die soziale Gerechtigkeit, die umfassende Nutzung der wirtschaftlichen Hilfsquellen zugunsten der Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit und die autonome Entfaltung des nationalen Lebens begründet sein muss.

II. Diese Ziele können nur erreicht werden, wenn die verschiedenen Länder der Welt sich bereit erklären, das Dogma der absoluten Staatssouveränität abzustreifen, indem sie sich einer gemeinsamen Bundesorganisation eingliedern.

Der Mangel an Einheit und Zusammenhalt, der noch zwischen den verschiedenen Teilen der Welt besteht, gestattet es nicht, unverzüglich zur Schaffung einer Organisation zu gelangen, die alle Kulturen unter einer einzigen Bundesregierung zusammenfasst. Am Ende des Krieges wird man sich darauf beschränken müssen, eine universale Organisation von weniger ehrgeizigem Ausmaß zu schaffen, die jedoch in sich den Kern der Fähigkeit erhalten muss, sich in Richtung auf eine föderale Einheit zu entwickeln, wobei die großen Zivilisationen, die das Fundament bilden, die Aufgabe haben werden, eine kollektive Sicherheit zu gewährleisten. Indes wird so eine Organisation nur dann ein wirksames Friedensinstrument darstellen, wenn die großen Zivilisationsbereiche in solcher Weise organisiert sind, dass der Geist des Friedens und der Geist der Verständigung obwalten können.

Darum muss im Rahmen dieser Universalorganisation das europäische Problem den Gegenstand einer direkteren und radikaleren Lösung bilden.

III. Der Frieden in Europa stellt den Schlüssel zum Frieden in der Welt dar. Tatsächlich ist Europa im Zeitraum einer einzigen Generation das Auslösezentrum zweier Weltkriege geworden, wobei hierfür wesentlich maßgebend war, dass auf diesem Kontinent 30 souveräne Staaten existieren. Es ist unerlässlich, gegen diese Anarchie anzugehen, indem eine föderale Union für die europäischen Völker geschaffen wird.

Nur ein föderativer Zusammenschluss wird die Teilnahme des deutschen Volkes am europäischen Leben gestatten, ohne dass es wieder zur Gefahr für andere Völker wird.

Nur ein föderativer Zusammenschluss wird es gestatten die Probleme der Grenzziehung in Gebieten mit gemischter Bevölkerung zu lösen, und zwar dadurch, dass diese Gebiete aufhören, Gegenstand irrer nationalistischer Begehrlichkeit zu sein, vielmehr zu reinen Fragen der territorialen Abgrenzung der Verwaltungszuständigkeiten zu werden.

Nur ein föderativer Zusammenschluss wird die Erhaltung der demokratischen Institutionen in solcher Weise gestatten, dass die politisch noch nicht voll gereiften Völker die allgemeine Ordnung nicht gefährden können.

Nur ein föderativer Zusammenschluss wird den wirtschaftlichen Wiederaufbau des Kontinents und die Ausschaltung der Monopole sowie der nationalen Autarkie gestatten.

Nur ein föderativer Zusammenschluss wird logische und natürliche Lösungen finden für das Problem des Zuganges zum Meer für die Völker, die im Binnengebiet des Kontinents gelegen sind, für das Problem einer rationalen Verwendung der Ströme, die verschiedene Staatsgebiete durchfließen, für das Problem der Kontrolle der Meerengen und schließlich überhaupt ganz allgemein für die Mehrzahl der Fragestellungen, die während der letzten Jahre die internationalen Beziehungen getrübt haben.

IV. Es ist nicht möglich, schon jetzt die geographischen Grenzen einer föderalen Union vorzusehen, die den europäischen Frieden gewährleisten soll. Jedoch ist es angebracht festzustellen, dass diese Föderation von Anfang an stark und umfassend genug sein muss, um der Gefahr zu entgehen, nur die Einflusszone eines fremden Staates zu sein oder das Instrument für die Hegemonie-Politik eines Mitgliedes. Darüber hinaus muss sie von Anfang an allen Ländern offen stehen, deren gebiet ganz oder teilweise in Europa liegt und die Mitglieder werden können und wollen.

Die Föderation muss sich auf eine Deklaration der Menschenrechte, der persönlichen, der politischen und der wirtschaftlichen, gründen, die die freie Entwicklung der menschlichen Person und das normale Funktionieren der demokratischen Institutionen gewährleistet. Darüber hinaus muss sie sich auf eine Deklaration der Minderheitenrechte stützen, die eine autonome Existenz dieser Minderheiten insoweit sicherstellt, wie dies mit der Integrität der Nationalstaaten vereinbar ist, auf deren Staatsgebiet sie sich befinden.

Die Föderation darf nicht das Recht eines jeden Mitgliedsstaates einschränken, die ihm eigenen Probleme in Übereinstimmung mit seinen völkischen und kulturellen Eigenarten zu lösen. Jedoch werden die Staaten, in Erinnerung an die Erfahrungen und Fehlschläge des Völkerbundes, unwiderruflich an den Bund diejenigen Kompetenzen ihrer Souveränität abtreten müssen, die die Verteidigung des Territoriums, die Beziehungen mit Mächten außerhalb des Bundes, die Wirtschaftsbeziehungen und die internationalen Verbindungswege zum Gegenstand haben.

Die Föderation muss vornehmlich verfügen über:

  1. eine Regierung, die nicht den Regierungen der einzelnen Mitgliedstaaten verantwortlich ist, sondern deren Völkern, dank denen diese eine unmittelbare Hoheitsgewalt im Rahmen der ihr überwiesenen Zuständigkeiten wird müssen ausüben können;
  2. eine Streitmacht, die den Befehlen dieser Bundesregierung untersteht, wobei jede nationale Streitmacht ausgeschlossen ist;
  3. einen obersten Gerichtshof, der für die Auslegung aller Fragen zuständig ist, die sich auf die Bundesverfassung beziehen, sowie für Streitfälle, die sich zwischen den Mitgliedstaaten oder zwischen einem Mitgliedsstaat und dem Bunde ergeben können.

V. Der Frieden, der aus dem Kriege geboren werden soll, muss sich auf Gerechtigkeit und auf den Fortschritt gründen, nicht auf Rache und Reaktion. Doch wird eine u nachsichtige Einstellung gegenüber allen Kriegsverbrechern erforderlich sein, die ungestraft zu lassen eine Beleidigung für das Opfer der Kriegstoten und insbesondere der namenlosen Helden des europäischen Widerstandes wäre. Deutschland und seine Satelliten werden am wirtschaftlichen Aufbau der Gebiete mitwirken müssen, die von ihnen verwüstet wurden, aber Deutschland muss geholfen werden, notwendigenfalls sogar gezwungen, seine politische und wirtschaftliche Struktur zu ändern, damit es sich dem europäischen Bunde eingliedern könne. Hierfür wird es gänzlich entwaffnet und für eine Übergangszeit einer Bundesaufsicht unterstellt werden müssen, deren wichtigste Aufgaben die folgenden sind: Die Macht in die Hände derjenigen zu legen, die ehrlich demokratisch gesonnen sind und die sich ohne Zweideutigkeit gegen den Nationalsozialismus gestellt haben; einen demokratischen und dezentralisierten Staat aufzubauen, in dem es weder Bürokratismus noch preußischen Militarismus gibt; die umfassende Zerstörung der feudalistischen Elemente in Agrar- und Industriestruktur; die Eingliederung der deutschen Schwerindustrie und der deutschen chemischen Industrie in die europäische Industrieorganisation, damit diese nicht mehr deutschen nationalistischen Zielsetzungen dienen können; Verhinderung einer Erziehung der deutschen Jugend im Sinne der Doktrinen nationalsozialistischer, militaristischer und totalitärer Lebensauffassung.

VI. Die unterzeichneten Widerstandsbewegungen erkennen die Notwendigkeit einer aktiven Teilnahme der Vereinten Nationen an der Lösung des deutschen Problems an, erwarten aber, dass alle Maßnahmen, die zwischen dem Ende der Feindseligkeiten und der Errichtung der Friedensordnung vorgenommen werden, im Hinblick auf die Notwendigkeiten eines solchen föderativen Zusammenschlusses erfolgen.

Sie appellieren an alle geistigen und politischen Kräfte der Welt und insbesondere an diejenigen der Vereinten Nationen, damit ihnen bei der Verwirklichung der in der gegenwärtigen Erklärung niedergelegten Ziele behilflich seien. Sie verpflichten sich, ihre jeweiligen nationalen Probleme als Teilaspekte des europäischen Problems in seiner Gesamtheit zu sehen, und sie beschließen, umgehend ein ständiges Büro zu schaffen, das den Auftrag hat, die Bemühungen um die Befreiung ihrer Länder, um die Schaffung der Föderation der europäischen Völker und um die Einrichtung von Frieden und Gerechtigkeit in der Welt zu koordinieren.


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  1. Gemeinsame Erklärung der Regierungschefs der Vereinigten Staaten von Amerika, Franklin D. Roosevelt, und des Vereinigten Königreichs, Winston S. Churchill, in der sie Grundsätze einer internationalen Politik in der „Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Welt“ formulieren. ↩︎