Anhang 13

Zwölf Thesen für Europa (14. April 1964)

„We are all small countries now - but not all of us realize this.“ (Paul-Henri Spaak)1

Die zwölf Thesen für Europa werden auf dem XIV. ordentlichen Kongress der EUROPA-UNION Deutschland in Frankfurt a. M. am 14. April 1964 verabschiedet und in Folge davon ins Englische, Französische, Italienische, Niederländische und Spanische übersetzt. Man versucht dabei vergeblich, diese Thesen zum neuen Grundsatzprogramm aller föderalistischen Europaverbände zu machen. Dennoch sind diese Thesen bis heute immer noch sehr lesenswert, besonders die zwölfte, welche dem Nationalismus und allen Nationalisten eine klare Absage erteilt. Diese Eindeutigkeit dürfte es auch gewesen sein, warum diese Thesen schnell wieder in Vergessenheit gerieten. Sie finden diese zwölf Thesen auch bei Karlheinz Koppe (1967: 223-227, Dokument 18).

Zwölf Thesen für Europa

  1. In zwei Weltkriegen hat das alte Europa sich selbst zerfleischt. Mit dem Ende des zweiten Weltkriegs war die europäische Weltherrschaft endgültig zusammengebrochen, hatte das europäische Staatensystem mit seinem blutigen Wechselspiel von Hegemonie und Gleichgewicht jeden Sinn verloren. Die europäischen Nationalstaaten westlich des Eisernen Vorhangs verfügten, jeder für sich, nur noch über einen geringfügigen Spielraum eigenen Handelns. Verglichen mit den neuen Riesenmächten waren sie machtlos und kraftlos. Dreihundert Millionen Europäer lebten in der Furcht vor zweihundert Millionen Sowjetrussen und von der Hilfe von hundertfünfzig Millionen Amerikanern.
  2. Seit 1945 erhebt sich zwingender denn je die Forderung nach einem neuen Europa, nach einer brüderlichen Gemeinschaft der europäischen Völker und Staaten, in der es keine feindliche Rivalität, keine überhebliche Hegemonie, keinen friedensstörenden Nationalismus geben kann und darf. Die zweitausend Jahre alte Kulturgemeinschaft, die von Athen, Rom und Bethlehem ihren Ursprung nahm, muss zur umfassenden Lebensgemeinschaft werden, die auch die ewig umstrittenen Gebiete der Außenpolitik, des Militärischen und der Wirtschaft als gemeinsame Aufgaben einschließt und befriedet.
  3. Das neue Europa des gemeinsamen Lebens und Handelns lässt sich nicht in alte Formen gießen. Internationale Verträge und Allianzen alten Stils bilden kein festes Fundament für eine unauflösliche Gemeinschaft. Bund ist anderes und mehr als Bündnis. Im föderalistischen Geiste, im Willen zum dauernden Bunde, der, von der engeren zur weiteren Gemeinschaft aufsteigend, jedem das Seine gebend, in der Synthese von Freiheit und Bindung sich bildet und fügt, gilt es den demokratischen Staat des dauernden Bundes, den europäischen Bundesstaat zu errichten. Die durch viele Jahrhunderte politisch getrennten Völker Europas erfüllen und vollenden sich einzig und allein in diesem Bundesstaat, in den Vereinigten Staaten von Europa. Erst mit ihnen entsteht die neue und höhere Einheit, die alle inneren Gegensätze friedlich überwindet und nach außen mit einer Stimme sprechen und mit einem Willen handeln kann.
  4. Der europäische Bundesstaat wird eine übergeordnete Souveränität innehaben, die ihm die sich zur Gemeinschaft zusammenschließenden Staaten freiwillig einräumen und die er mit eigenen Organen ausübt. Eine europäische Regierung, ein europäisches Parlament und ein europäisches Oberstes Gericht werden nach demokratischen Regeln, gemäß den Bestimmungen der bundesstaatlichen europäischen Verfassung den jedem von ihnen zukommenden Anteil an der höchsten Staatsgewalt erhalten. Auf den Gebieten der Außenpolitik und der Verteidigung wird der Bund die ausschließliche Zuständigkeit besitzen.
  5. Die Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern werden nach der föderalistischen Regel „oben soviel wie nötig und unten soviel wie möglich" verteilt werden. Die fruchtbare europäische Vielfalt bleibt auch in der neuen Einheit erhalten. Den Ländern der europäischen Gemeinschaft wird verbleiben, was sie selbst bewältigen können. Was der ehemalige Nationalstaat an vermeintlicher, in Wahrheit längst ausgehöhlter Souveränität verliert, das wächst dem Gliedstaat der Gemeinschaft mit seinem Anteil an der neuen und echten Souveränität des Bundes überreichlich wieder zu. Wer abgibt an Europa, gewinnt.
  6. Unendlich viel ist zu gewinnen mit den Vereinigten Staaten von Europa. Heute, nach fast zwei Nachkriegsjahrzehnten, geht es nicht mehr darum, den Frieden im freien Europa zu sichern. Dieser Friede versteht sich bereits von selbst. Es geht auch nicht einfach darum, Schwäche in Kraft zu verwandeln. Der Sinn und Zweck vereinter europäischer Kraft ist entscheidend. Die alten Grenzen müssen fallen, um für die Menschen und Völker Europas neue und weitere Horizonte zu öffnen. Heute ist jedes Volk Europas in provinzieller Enge gefangen und befangen. Die nationalen Probleme, die allesamt nicht mehr im nationalen Rahmen lösbar sind, versperren den Blick und fälschen die Maßstäbe. Die Völker Europas sind in Gefahr, geistig zu verarmen. Nur von den großen Aufgaben europäischer Gemeinschaft her wird ihnen eine neue Blüte beschieden sein. Sie wird nach innen nicht allein größeren materiellen Wohlstand und sozialen Fortschritt bedeuten. Aus der politischen Synthese, aus der Freizügigkeit, die kein europäisches Ausland mehr kennt, aus der Brüderlichkeit, die mit Fremdheit und Vorurteil aufräumt, wird es belebend zurückstrahlen in alle Gebiete menschlicher Kultur.
  7. Nach außen wird die neue Kraft der von jeder Form des Nationalismus erlösten Vereinigten Staaten von Europa im Dienste der Freiheit und des Friedens stehen. Sie werden Leuchtturm und Hoffnung sein für alle Menschen und Völker in Europa, die heute noch die Freiheit entbehren müssen. Nur der europäische Bundesstaat ist in der Lage, die von Amerika angebotene Atlantische Partnerschaft Wirklichkeit werden zu lassen. Erst der Präsident der Vereinigten Staaten von Europa wird ein vollgültiger Partner des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika sein. In der Atlantischen Partnerschaft gilt es, für das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Volksteile entschieden einzutreten, wo immer es vorenthalten wird. Eng verbunden mit Amerika wird das geeinte Europa militärisch, politisch und wirtschaftlich einen entscheidenden Beitrag für den Frieden der Welt, vor allem in dem unser Zeitalter beherrschenden Ost-West-Konflikt, leisten können. Eng verbunden mit Amerika wird das geeinte Europa in den überseeischen Erdteilen seiner neuen Rolle gerecht werden, die Hilfe heißt und nicht mehr Herrschaft. Die Neue Grenze Europas wie Amerikas wird nicht vom Gewinn neuen Landes oder neuer Macht bestimmt werden, sondern vom kühnen Vordringen in eine bessere Welt der Freiheit, des Friedens und der Gerechtigkeit.
  8. Es ist nach 1945 nicht gelungen, die Vereinigten Staaten von Europa mit einem großen Wurf, in einem mutigen Zuge zu verwirklichen. Aber erste und wesentliche Schritte auf dem Wege zum europäischen Bundesstaat sind getan. Am 9. Mai 1950, an dem der unvergessliche Robert Schuman die politische Initiative ergriff, um Jean Monnets Plan für eine europäische Montanunion Wirklichkeit werden zu lassen, schlug die Geburtsstunde des übernationalen Europa. EURATOM und vor allem die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sind auf diesem Wege gefolgt. Zum ersten Mal in der Geschichte Europas wurden entscheidende Breschen in die nationalen Souveränitäten geschlagen. Sechs Staaten Europas sind vorangegangen und haben bewiesen, dass sich nationalstaatliche Hoheitsgewalt auf eine übergeordnete europäische Gemeinschaft übertragen lässt und dass dieser Gemeinschaft ein überwältigender Erfolg beschieden ist, wenn ihre Arbeit im Gemeinschaftsgeist geleistet wird.
  9. Viel ist erreicht, vor allem durch eine gemeinschaftliche Politik auf dem Gebiet der Wirtschaft. Mehr bleibt noch zu tun. Die europäischen Gemeinschaften waren bei ihrem Entstehen von ihren Schöpfern, von den großen Europäern [Robert] Schuman, [Konrad] Adenauer, [Alcide] de Gasperi, [Jean] Monnet, [Paul-Henri] Spaak, als Bausteine am großen Werk der europäischen Föderation gedacht und gewollt. Sie sollten nichts Letztes und Höchstes sein, sondern Schritte auf dem Wege zu den Vereinigten Staaten von Europa. Das ist und bleibt ihr Sinn. Die Aufgabe, das Werk zu vollenden, bleibt mit zwingender Notwendigkeit gestellt.
  10. Auch die Gebiete der Außenpolitik und der Verteidigung sind in das europäische Gemeinschaftsgeschehen einzubeziehen. Die bewährte übernationale Methode mit ihrem vorweg festgelegten Fortschreiten von Stufe zu Stufe der Integration ist auch auf diese stärksten Bollwerke nationalstaatlicher Hoheitsgewalt anwendbar. Schritt für Schritt ist die außenpolitische und verteidigungspolitische Souveränität zu übertragen auf die so immer umfassender werdende europäische Gemeinschaft, deren unbedingt demokratische Substanz durch wesentlich stärkere Rechte und Funktionen eines direkt gewählten europäischen Parlaments gewährleistet sein muss. Dieses Gemeinschaftssystem gilt es mit eiserner Folgerichtigkeit auszubauen und zur harmonischen Reife zu bringen, bis dann der letzte Schritt zur Begründung des vollausgebildeten europäischen Bundesstaates getan werden kann.
  11. So und nur so kann und wird Europa in immer neue Tiefen des Gemeinschaftsgeschehens vordringen. Es bedarf jedoch gleichfalls einer Entwicklung in die Breite. Sechs Staaten Europas sind nicht das ganze freie Europa. Soweit Menschenrechte und Freiheit reichen in Europa, diesseits und, sobald sie ihn überwinden, auch jenseits des jetzigen Eisernen Vorhangs, soweit ist auch die Vereinigung Europas aufgegeben und vorgeschrieben. Am Ende des Weges steht das in Freiheit geeinte Gesamteuropa. Die engere Gemeinschaft findet immer nur als Vortrupp ihren Sinn. Ihre Tore müssen weit offen stehen für jeden europäischen Staat, der bereit ist, das Gesetz der Gemeinschaft anzuerkennen.
  12. Das Ziel ragt hoch, und der Weg dehnt sich weit. Das darf nicht abschrecken von der fruchtbarsten Aufgabe unseres Jahrhunderts. Noch sind die hemmenden Kräfte der Vergangenheit nicht überwunden. Immer wieder sind Rückschläge möglich, wie Europa sie in den Jahren 1954 und 1963 schmerzlich erlebt hat. Solange es Nationalisten gibt, wird das Werk gefährdet sein. Nationalist ist heute jeder Staatsmann und jeder Bürger Europas, dem der Nationalstaat das Höchste und Letzte bleibt, der sich weigert, sein Volk und seinen Staat in die höhere Gemeinschaft einzubringen. Nationalist ist daher auch jeder, der dieser Aufgabe auszuweichen sucht, der mit trügerischen europäischen Vokabeln die Gewissen einschläfert und unter falscher europäischer Flagge doch nur wieder das alte, längst überholte System souveräner Staaten mit ihren Konferenzen und Allianzen und auch mit ihren Großmacht- und Vormachtsansprüchen neu beleben will. Hier gilt es, standhaft zu bleiben und nein sagen zu können. Nicht mit schwächlichen Kompromissen lässt sich der Kampf um Europa gewinnen, sondern nur mit dem unerschütterlichen Willen, dort anzuknüpfen und fortzusetzen, wo Robert Schuman begann, und in seinem Geiste Bresche um Bresche zu schlagen in die nationalen Souveränitäten, bis das Ziel des europäischen Bundesstaates, der Vereinigten Staaten von Europa erreicht ist.

Diese Web page unterliegt der Creative Commons Lizenz: CC BY 4.0

  1. Zitiert nach Dick Leonard (2010: 291) ↩︎