Ansprache Raymond M. Jung d’Arsac (24. September 2006)

„Solange die Nationen ein gesondertes Dasein führen, wird es Streitigkeiten geben, die nur mit den Waffen geschlichtet werden können.” (Helmuth Karl Bernhard Graf von Moltke 1911: 3)

Diese Ansprache wird von Raymond M. Jung d’Arsac am 24. September 2006 in Hertenstein anlässlich der 60-Jahr-Feier der Konferenz von Hertenstein gehalten und uns Europäischen Föderalisten im Anschluss dann auch schriftlich mit den Übersetzungen der französischen Passagen zur Verfügung gestellt; ich habe der Lesbarkeit halber die französischen Passagen entfernt.

Diese Sichtweise eines Schweizer Föderalisten auf die Dinge lassen spüren, wie unterschiedlich man unsere gemeinsame Sache von Anfang an angegangen ist und wie sehr persönliche Befindlichkeiten und Traditionen Geschichte beeinflussen können.

Churchill und Hertenstein

Liebe Freunde, Kollegen, Europäer!

Meine Ansprache am 24. September 2006 anlässlich der 60-Jahr-Feier der Konferenz von Hertenstein, vor dem Gedenkstein auf der Schiffsanlegestelle, ist auf reges Interesse gestoßen und ich freue mich, Ihnen die Rede in schriftlicher Form zugänglich machen zu dürfen.

Dass mir die Ehre und Freude zufällt, als Abschluss dieser vorbildlich organisierten und zu so gutem Ende geführten Gedenkveranstaltung das Wort an Sie richten zu dürfen ist zunächst einmal nicht mein Verdienst. Es ist ganz einfach so, dass ich allem Anschein nach der letzte überlebende Teilnehmer der Hertensteiner Konferenz bin. Das ist lediglich eine Alterserscheinung. Und wenn ich nun trotzdem, wie schon anlässlich des 50. Jahrestages auf diesem Landesteg zu Ihnen spreche, dann deshalb, weil ich zusammen mit anderen europäischen Mitstreitern eine solche Konferenz wünschte, anregte, forderte und von der damaligen ‚Europa-Union‘ mir die Vollmacht geben ließ, im Juli 1946 in Paris alle Fühler auszustrecken, alle mir bekannten Schwesterorganisationen zur Gründung einer europäischen Dachorganisation zu motivieren und alle zu diesem Zwecke nach Hertenstein in der Schweiz einzuladen. An der Konferenz wurde ich zudem Berichterstatter (Rapporteur).

Bei den Teilnehmern der Arbeitsgruppe ‚Geschichte‘ möchte ich mich jetzt schon dafür entschuldigen, dass sie einen kleinen Teil meiner Ausführungen bereits gehört haben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde, Mesdames et Messieurs, chers amis. Erlauben Sie mir dass ich einige Teile dieser Ausführungen in französischer Sprache halte. Am 19. September jährte sich zum sechzigsten Mal ein nicht beabsichtigtes Zusammentreffen zweier grundlegender Ereignisse zur Europäischen Einigung:

In Zürich sprach Winston Churchill, der charismatische Premierminister Großbritanniens während des Zweiten Weltkrieges und damit Mitbesieger von Hitler-Deutschland und dessen Achsenmächten.

„Let Europe Arise!“ war der Kern seiner Ansprachen in der Aula der Zürcher Universität und auf dem Münsterhof. Generationen von Europa-Einiger berufen sich auf diese Aufforderung und Mahnung.

Bereits 1940 nach dem Desaster der sich abzeichnenden Niederlage Frankreichs gegenüber den deutschen Armeen hatte er zu einer französisch-britischen Föderation aufgerufen und damit das Schicksal der geschichtlich nicht immer im Gleichschritt marschierenden Nationen miteinander verbunden. Diesem Bund wäre damit die Schmach eines verlorenen Krieges eines der Partnerstaaten erspart geblieben. Wieso die damalige französische Regierung diesen großzügig hingeworfenen Rettungsanker verschmähte bleibt ein Rätsel. Aber war diese Aufforderung zur Europäischen Einigung eine Erneuerung des erwähnten Angebotes mit dessen Erweiterung auf den gesamten Kontinent?

Rückblickend und in Kenntnis der späteren Entwicklung des Europäischen Einigungsprozesses dürfen wir behaupten, Churchill habe mit seinem Vorschlag Kontinentaleuropa gemeint und damit nicht eine Beteiligung von Großbritannien im Visier, das wohl damals noch in Kategorien des ‚Commonwealth‘ behaftet war.

Mit seinem Aufruf stellte sich Churchill in eine Reihe von Persönlichkeiten, die im Laufe der Jahrhunderte die Vision eines geeinigten Europas propagiert hatten.

Wir wollen nicht von Denkern bereits im 13. Jahrhundert sprechen (Gaston [IV. von Béarn?], [Pierre] Dubois), noch von Georg von Podiebrad, König von Böhmen, auch nicht von der Bedeutung Napoleons für das Bewusstsein eines gemeinsamen Europas.

Ebenfalls erwähnen wir nicht die imperialistischen Machtgelüste quer durch unseren Kontinent, angefangen mit den Römern, weitergeführt durch das Reich Karls des Großen, das Heilige Reich deutscher Nation und das Konglomerat Österreich-Ungarn, die französischen und deutschen Kaiserreiche, alles wenig demokratische und nicht-föderalistische Modelle.

Und schon gar nicht erinnern wir uns der kommunistischen, faschistischen und vor allem nicht nationalsozialistischen Versuche.

All’ dies hat sich zwar in unseren Köpfen festgesetzt und wurde Teil einer europäischen Geschichte, des Bewusstseins eines gemeinsamen kulturellen, geschichtlichen, geographischen, juristischen und Kontinent verbundenen Nenners, einer langen Reihe unnötiger Bruderkriege ... doch das alles ist nicht genug. Ein an der Basis oder zwischenstaatlich undemokratisch aufgebautes Europa, d.h. nichtföderalistisches, hat in unserem Kontinent keinerlei Chancen auf Nachhaltigkeit, würde wie in der Vergangenheit zu Konflikten oder gar Kriegen führen und unsere Anstrengungen, Hoffnungen und Ziele eines geeinten Europas mit Sicherheit zunichte machen.

Die mit [Winston] Churchill fortgesetzte Reihe von Europäern mit autoritär-unionistischem Gedankengut hatte vielleicht ihren Ursprung bei dem unglücklichen Kronprinzen Österreich-Ungarns, dem Erzherzog Rudolf von Habsburg, der die verkrusteten Strukturen der Doppel-Monarchie umformen wollte (erlauben Sie mir, dass ich auch in französisch spreche).

Er war sich im Klaren, dass die konservative Politik seines Vaters, des Kaisers Franz-Joseph, letztlich scheitern musste, wollten doch die zusammengewürfelten Staaten und Völker nicht mehr nur durch eine gemeinsame Krone zusammengehalten werden! Doch der Kronprinz verschied 1889 in Mayerling. Starb er weil er seine Ideen verwirklichen wollte? Wie auch immer: Das habsburgische Reich hat den Ersten Weltkrieg nicht überlebt und die Wiener fanden sich plötzlich in einer Weltstadt die zehnmal zu groß war, um als Hauptstadt eines kleinen Landes wie Österreich von 1919 zu fungieren.

Da dachte Graf Coudenhove-Kalergi das Österreich-Ungarische Reich in der Form eines Bundes zu restaurieren und auf ganz Europa auszudehnen. Statt des Kaisers sollte ein Bundespräsident in der Wiener Hofburg residieren – Wien würde Hauptstadt Europas. Der Graf reihte sich damit in die lange Reihe von Persönlichkeiten, welche Europa von oben nach unten einigen wollten!

Dies war der Beginn der modernen Bewegung mit dem Ziel der Europäischen Einigung. Er gab dieser den Namen ‚Paneuropa-Union‘. Mittels Kongressen, Veranstaltungen und Büchern aber vor allem durch Überzeugungsarbeit gegenüber Staatsmännern erreichte Coudenhove teilweise Akzeptanz dieser Idee auf Regierungsebene. Es gelang ihm, zahlreiche Staatsoberhäupter und Regierungschefs seiner Zeit für die ‚Paneuropa-Union‘ zu gewinnen, Thomas G. Masaryk, Gustav Stresemann, Edvard Beneš, Benito Mussolini, Aristide Briand, Engelbert Dollfuß ... also ein elitärer Kreis, ohne Zugang zur demokratischen Basis, welcher glaubte seine Ziele ohne Zustimmung des Volkswillen und der Staatsbürger der zu einigenden Länder zu erreichen. Nicht nur haben wir es hier zu tun mit dem was man später unter „Unionismus“ verstand (Konföderation im Gegensatz zum Willen einen Föderativstaat wie die Schweiz oder die Vereinigten Staaten zu schaffen) sondern bereits die Vorwegnahme des „Institutionalismus“, der das Primat der Wirtschaft auf die Politik postuliert!

Im Gefolge der paneuropäischen Idee gab es einige Vorstöße, auch im Rahmen des Völkerbundes. Der Plan Briand ist ein solcher Versuch [Sie finden das Briand Memorandum im Anhang 3]. Auch der französische Außenminister [Edouard] Herriot und andere Staatsmänner versuchten in der Zwischenkriegszeit vergebens, Coudenhoves Gedankengut umzusetzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg und nach Churchill wurde diese Reihe fortgesetzt durch Robert Schuman (Plan Monnet) [Sie finden die Erklärung Schumans im Anhang 14], Konrad Adenauer, Paul-Henri Spaak usw. Allen gemeinsam war ihr Appell an die Staatsoberhäupter, an die Regierungen und bestenfalls an die nationalen Parlamente.

Doch weder setzte sich die Initiative des Grafen Coudenhove in der Zwischenkriegszeit durch noch konnte sie den Zweiten Weltkrieg verhindern. Immerhin lebte diese Idee in der Tradition und Linie dieser Bewegung wieder auf, als 1946 Churchill in einer bemerkenswerten Rede an der Universität von Zürich zur Europäischen Einigung aufrief. Und einige Jahre später war es der französische Minister Robert Schuman, der das Konzept einer Europäischen Union seines Mitarbeiters Jean Monnet wiederbelebte. Es hat den Anschein, dass sich 50 Jahre später diese Vision realisiert hat

Zumindest wird dies heute als beliebte Kurzfassung der Europäischen Einigungsgeschichte herumgeboten. Nun, lassen Sie mich als einer der letzten Zeitzeugen dieser Entwicklung und überdies Aktivist der ersten Stunde diese Sichtweise korrigieren. Wissen Sie, dass am gleichen Tag der Rede Churchills in Zürich ein anderes großes europäisches Ereignis in Luzern über die Bühne des Kongresshauses ging? Es war die Schlussveranstaltung der „Konferenz von Hertenstein“, der allerersten internationalen Nachkriegsveranstaltung der Vertreter jener Organisationen Europas, welche den kontinentalen Zusammenschluss wollten. Diese Konferenz vertrat die Basisbewegungen, den Volkswillen und nicht jenen der Politiker, die lediglich sich selbst vertraten, auch wenn sie sich auf die öffentliche Meinung stützten und die Überzeugungsarbeit just jener Organisationen ausnützten, welche sich zuvor eine Woche lang in Hertenstein am Vierwaldstättersee mit der Zukunft Europas auseinandergesetzt hatten!

Alle diese Persönlichkeiten hoben sich ab von einer Volksbewegung, welche die Mehrheit der Staats- und Stimmbürger zur Europa-Idee bekehren wollten. Mit dem Stimmzettel und einer Verfassunggebenden Versammlung (Konstituante) sollte der Europäische Einigungsprozess in die Wege geleitet werden. Diese andere Strömung, jene der ‚Konstitutionalisten‘ oder ‚Föderalisten‘, wollte den Europäischen Integrationsweg durch eine Europa-Verfassung beginnen und äußerten Zweifel an der Effizienz der anderen Gangart.

Es sei daran erinnert, dass 1934 die Vorläufer beider Tendenzen sich mit Eklat trennten. Damals leitete ein junger Student namens Hans Bauer den Schweizer Ableger der Paneuropa-Union des Wiener Grafen Coudenhove-Kalergi, des Ersten der langen Reihe von Persönlichkeiten, welche Europa nach dem Ersten Weltkrieg von oben nach unten einigen wollten. Hans Bauer hatte in der demokratischen Schweiz eine andere Vorstellung des politischen Weges: Zuerst wurde aus dem Schweizer Ableger eine ‚Volkssektion Schweiz‘, dann ließ Bauer auch die Vorsilbe ‚Pan‘ weg, fusionierte die ‚Europa-Union‘, Schweizerische Bewegung für die Einigung Europas, welche er verdienstvoll viele Jahrzehnte präsidierte, mit der Organisation ‚Jung-Europa‘ und überwarf sich mit dem Grafen. So wurde die ‚Europa-Union‘ die erste und damals einzige Organisation unseres Kontinents, welche die Gründung der ‚Vereinigten Staaten Europas‘ auf ihre Fahne geheftet hatte und dies auf demokratischem Weg durch den Stimmzettel auf der Basis eines mehrheitlichen Volkswillen erzielen wollte.

Diese Weichenstellung zur Europa-Union kann nicht genug gewürdigt werden wenn wir die Entwicklung des Europäischen Gedankens im Verlauf des historischen Prozesses verstehen wollen. Gestatten Sie mir diese Qualität einer Basisbewegung der ‚Europa-Union‘ als Vorläuferin der heutigen NEBS (Neue Europäische Bewegung, Schweiz) ausdrücklich hervor zu heben, die sich zwei Generationen später mit anderen ebenfalls nicht elitären Basisbewegungen vereinigte. Dieser grundlegende Charakter, gegründet auf der langen demokratischen und föderalistischen Tradition der Schweiz, unterscheidet sie grundlegend von allen anderen das gleiche Ziel verfolgenden Organisationen der Zwischenkriegszeit.

Von Anbeginn war dieser Bewegung eine eindrückliche Resonanz beschieden. Vor allem in Basel, wo sie ihren Hauptsitz hatte, scharten sich demonstrativ und in großer Zahl die Einwohner zu den ideologischen Zielen der EU, welche sich von den großeuropäischen Träumen von der anderen Rheinseite unterschieden. Persönlichkeiten wie Hans Bauer, Heinrich Ritzel, Zentralsekretär der EU, ehemaliger sozialistischer Reichstagsabgeordneter, der am 15. Januar 1933 gegen Hitler gestimmt hatte, der ehemalige Bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner, der Schriftsteller Fritz von Unruh, der Rektor des Institutes von Menziken [Otto] Brogle, mit [Heinrich] Ritzel gewaltiger Redner, Heinrich Schiess u.a. standen an vorderster Front.

Beide Strömungen verfolgten strategisch zwar das gleiche Ziel: einen Europäischen Bund, aber bei ungleicher Taktik. Die Politik der Politiker mündete in die Absicht, durch Schaffung von ‚Institutionen‘ (Montanunion usw.) ein Europäisches Bewusstsein zu schaffen, welches mehr oder weniger automatisch zu einem politischen Zusammenschluss führen würde. Diese Strömung hat die Geschichtsschreibung mit ‚Institutionalisten‘ oder ‚Funktionalisten‘ bezeichnet und ist dem taktischen Weg zuzuordnen. Was das strategisch anvisierte Ziel betrifft: Bis heute war und ist nicht ganz klar, was für eine endgültige Staatsform dieses Europa dereinst einnehmen würde. Schwergewichtig lässt sich sagen, dass die ‚Institutionalisten‘ zumeist auch ‚Unionisten‘, d.h. Vertreter eines eher lockeren Verbandes Europas waren und sind. Diese Haltung hat sich spätestens im Herbst 1948 am Kongress von Rom übrigens äußerst knapp durchgesetzt und führte letztlich zu den Römer Verträgen von 1951 und zum heutigen Status quo. Dieser dramatisch grundlegende Unterschied in den Strömungen war bereits am ‚Haager Kongress‘ vom Mai 1948 offensichtlich geworden.

Unter dem Druck der ‚institutionell‘ geprägten Dachorganisation und von Churchills Schwiegersohn Duncan Sandys geführten ‚Europäischen Bewegung‘ begannen die ‚Konstitutionalisten‘ bereits zu resignieren. Im Schosse dieser EB etablierte sich die fatale Auffassung, Europa müsse durch wirtschaftliche Bindungen sich langsam und automatisch zu einer politischen Union heranbilden. Diese Meinung herrschte hauptsächlich bei den ‚Unionisten‘, während die ‚Föderalisten‘ bis in die Vorstände ihrer Dachorganisation ‚Union des Fédéralistes Européenne (UEF)‘ und anderer dieser Entwicklung ahnungslos, passiv bis naiv gegenüberstanden oder diese nicht einmal wahrzunehmen imstande waren. In Klammern sei gesagt, dass Coudenhove-Kalergi, nach dem Zweiten Weltkrieg seine Organisation unter dem Druck der Verhältnisse, Fakten und nicht zuletzt unter jenem einiger unter uns seine Organisation vom elitären Dach der Staatoberhäupter und Regierungschefs wenigstens auf das ‚Niveau‘ der Parlamentarier herunterholte.

Der berühmte Aufruf Winston Churchills vom 19. September 1946 in Zürich gehört aber eindeutig in die Linie dieser Coudenhove-Tradition. Die Idee Churchill fand ihren Ausdruck in der von seinem Schwiegersohn Duncan Sandys geführten ‚Europäischen Bewegung‘ und findet später ihre Fortsetzung durch den Belgier Paul-Henri Spaak und die Franzosen Jean Monnet und Robert Schuman, was schlussendlich zur europäischen Struktur führte, wie wir sie heute kennen. Diese Tradition widerspiegelt sich heute auch in der späteren NEBS-NOMES, und dies nicht nur in ihrem gewählten neuen Namen ... Es gab jedoch eine Gegenbewegung, welche sich diesem Weg vehement entgegen zu stellen versuchte: das waren die ‚Konstitutionalisten‘. Diese warnten vor dem anderen Weg und befürworteten die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung, welche die politische Einigung durch Einführung einer föderativen europäischen Verfassung bewerkstelligen wollten. Persönlich gehörte ich dieser Strömung an und kämpfte an vorderster Linie für diese.

An dieser Stelle mag es angebracht sein, einige Worte zu meinem europäischen Werdegang einzufügen um meine Haltung zu erklären. Ich mag circa 12-jährig, d.h. 1937, Hitlers Buch „Mein Kampf“ gelesen haben und ahnte die kommende Katastrophe voraus. In jugendlichem Optimismus stellte ich mir vor, die Welt vor einem Kriege retten zu können, indem alle Staaten dieser Welt eine ‚Eidgenossenschaft‘ nach schweizerischem Vorbild bilden sollten. Schließlich hatte unser föderalistisches Prinzip meiner Meinung nach, seit 1848 eine Wiederholung des Sonderbundkrieges1 verhindert und war Garant für dauernden internen Frieden. 1938 lernte ich einen jungen Wiener Volkswirt, Edmond Breuer, kennen, der im Frühling dieses Jahres vor den Nazis in die Schweiz geflüchtet war und, mit den Ideen Coudenhoves vertraut, mich fragte, ob man nicht zuerst Europa einigen und in einer zweiten Stufe die Kontinente vereinigen sollte, was mir sofort einleuchtete. Also wurde mein Jugendverein umfunktioniert und hatte unter dem Kürzel IPVAN nunmehr die Europäische Einigung zum Ziel. Wir wähnten uns mit dieser Idee allein und etwas hilf- und machtlos, versuchten uns aber in der Verbreitung dieser Idee.

Es kam der Krieg und wir wollten nun wenigstens die Idee in die Friedenszeit hinüberretten, warben Mitglieder und schrieben an einem Buch, welches unsere Ziele festhielt. Zuvor, noch während der Kriegszeit, hatte ich einen ehemaligen Anhänger Coudenhoves in Lausanne, Ernest B. Steffan für die EU gewonnen, gründete mit ihm zusammen im Frühjahr 1945 [06.06.1945] die erste EU-Sektion in der Romandie, die ‚Section du Léman‘ in Lausanne, an deren Spitze ein anderer ehemaliger Paneuropäer, Henri Genet, der spätere Stadtrat trat. Zahlreiche Sektionsgründungen erfolgten noch im gleichen Jahr in der welschen Schweiz und die gesamt-schweizerische EU erwachte durch uns aus ihrem Winterschlaf; Steffan wurde Secrétaire Romand und ich Président Romand, später überantwortete man mir die Reorganisation der Sektion Zürich und die Wiederbelebung der Jugendbewegung, worauf ich auch administrativer Präsident der Jung-Europa-Union wurde, Einsitz in die Europäischen Dachvorstände der Jugend- und Studentenverbände nahm, von letzterer Organisation auch Präsident der Statutenkommission wurde.

Schon zuvor wünschte ich den baldigen Zusammenschluss möglichst aller Kräfte in Europa für die gemeinsame Aufgabe, die europäischen Völker auf ihr Zusammenleben in einem geeinigten Kontinent vorzubereiten. Es erschien mir widersinnig, diese Aufgabe national anzugehen.

So antichambrierte ich also im Juli 1946 u. a. in Paris an der Rue Aubert 7 und im Büro des ‚Comité pour les États-Unis d’Europe‘ an der 100, rue Réaumur und wartete, zusammen mit einem Unbekannten, auf dessen Präsidenten, Gérard. Der Unbekannte. Hendrik Brugmans, stellte sich vor als Präsident der holländischen Europa-Union und warb im gleichen Jahr, im gleichen Monat, am gleichen Tag am gleichen Ort für den gleichen Zweck, die Europäische Einigung der Einiger, und dies ohne jede Verabredung.

Am gleichen Tag, abends, trafen sich also in l’Haye-les-Roses die Vertreter der Bewegungen der Schweiz, Hollands, Frankreichs aber wohl ebenso zufällig auch aus Großbritannien. Letztere waren Vertreter der mir bekannten und mit der EU bereits vor dem Krieg liierten ‚New Commonwealth Society‘. Sie gehörten meiner Generation an, trugen zu schwarzen Hosen dunkelblaue Hemden. Zwei von ihnen hatten die Eingangstreppe des Hauses flankiert in dem wir uns trafen. Als wir uns der Türe näherten grüßten beide simultan mit der erhobenen rechten Faust. Brugmans erwiderte den Gruß auf dieselbe Art. (Ich gab beiden die Hand!) Mir schwante nichts Gutes. Als Initiant wurde ich aufgefordert, die Vorstellungen der schweizerischen Europa-Union zu vertreten, was mit unseren liberalen Leitsätzen bei den praktisch kommunistisch- und russlandtreuen Anderen auf größte Skepsis stieß. Speziell ablehnend verhielt sich Brugmans, der von mir wissen wollte, was die Schweizer alles unter den Begriff Europa subsumierten, vor allem gegen Osten zu. Europa gehe so weit ostwärts, als der Begriff Freiheit, meinte ich diplomatisch. Brugmans, ehemaliges Oberhaupt des holländischen Widerstands gegen die Nazis und derzeit Kommissar (d.h. Minister) für die Kolonien, insistierte und wollte wissen, ob die UdSSR dazugehöre, ja oder nein! Ich äußerte meine persönliche Meinung, dass dem nicht so sei, worauf er dunkelrot anlief und mir entgegenschrie: „Ou bien nous faisons le États-Unis d’Europe avec l’Union Soviétique ou nous la faisons pas du tout“. Nun erklärte ich meine Idee des Zusammenschlusses, der natürlich auch föderalistisch sein sollte, jede nationale Bewegung behalte ja ihr Programm, die gesamteuropäische Organisation propagiere lediglich den gemeinsamen Nenner und überbrachte nun die offizielle Einladung der Europa-Union Schweiz, eine Konferenz in Hertenstein am Vierwaldstättersee, nächst dem Gründungsort der Schweizerischen Eidgenossenschaft, dem Rütli, abzuhalten.

Dann in Basel, dem damaligen Sitz des Zentralsekretariates der EU, beim Rapportieren an den Zentralsekretär [Heinrich] Ritzel, war ich alles andere als sicher, die Mission erfolgreich hinter mich gebracht zu haben.

Tatsache aber war, dass im September mehr als 60 Europäer aus allen Ländern in Hertenstein zusammentrafen, eine Dachorganisation schufen und Brugmans zum Präsidenten machten (!), der sich in vier Wochen vom Saulus zum Paulus gewandelt hatte!

Den Vorschlag [Heinrich] Ritzels, mich als Sekretär der Organisation vorzuschlagen, musste ich mit Rücksicht auf meinen Vater ausschlagen, dem sicher der Abschluss meines Studiums wichtiger war.

Dass der Schwerpunkt aller Aktivitäten in der EU seit Ende des Krieges in der Welsch Schweiz lag, gab vermutlich den Ausschlag, uns die Organisation des ersten großen Europakongresses in Montreux anzuvertrauen. Die Partizipation 1947 war derart groß, dass de facto zwei getrennte Kongresse durchgeführt werden mussten, einen mit einem Weltbund als Ziel, der andere mit Europa.

Letzterer mündete in die Gründung der ‚Union Européenne Fédéraliste‘ mit an der Spitze Hendrik Brugmans. Dem folgten eine Unzahl von Sitzungen, Tagungen, Kongressen quer durch Europa, an denen ich meistenteils teilnahm (Straßburg, Aachen, Bonn, Paris, Amsterdam, Brüssel usw.)

Dann erfolgte der Kongress vom Frühjahr in Den Haag. Dieser umfasste erstmals sämtliche Organisationen, die Europa als Einigung im Visier hatten, also die UEF (Föderalisten), die Europäische Bewegung (Unionisten), aber auch die Paneuropa-Union, die rein wirtschaftlich orientierte Bewegung von Paul van Zeeland usw. usw. Dieser von der Europäischen Bewegung dominierte Kongress (Churchill war der Mittelpunkt) öffnete den Weg für den ‚Institutionalismus‘ und auch die damals erfolgte Gründung des Europarates entsprach nicht den Vorstellungen der ‚Konstitutionalisten‘, die wir zumindest in meiner Gruppe waren.

Auch heute noch bin ich der Meinung, dass im Herbst gleichen Jahres es noch nicht zu spät gewesen wäre, das Rad der Geschichte in Richtung Europäische Verfassung zu drehen: Im Herbst 1948 tagte die UEF im Palazzo Vecchio in Rom, wo vordem Mussolini regiert hatte. Meine Organisation – Rodolphe Czuzkawar unser Kundschafter – hatte errechnet, dass im vorgeschlagenen Zentralvorstand der UEF zahlenmäßig eine Pattsituation zwischen ‚Konstitutionalisten‘ und ‚Institutionalisten‘ herrschen würde. Um dem Ausschuss eine ‚konstitionialistische‘ Mehrheit zu sichern, war es jedoch unerlässlich, dass alle Schweizer Delegierten ausnahmslos dieser Strömung angehören müssten. Nun kandidierte auf unserer Liste aber auch der französische Generalsekretär Raymond Silva, dies mit der Begründung, Sitz des Generalsekretariates sei Genf. De facto hatten die Franzosen derart einen Sitz mehr in der GV und dies zu Lasten der Schweiz. Und ausgerechnet dieser Raymond Silva gehörte dem Lager der ‚Institutionalisten‘ an! Also legte ich den Schweizer Vertretern, die in angeblich geheimer Abstimmung darüber befanden, eine handverlesene Liste unserer Delegierten vor, die alle unverdächtig und konstitutionell gesinnt waren. Einstimmig wurde der Vorschlag gutgeheißen und ich wähnte bereits damit eine Mehrheit im Zentralvorstand gewonnen zu haben. Das Gewicht der UEF im Rahmen der Europäischen Bewegung, mittlerweile Dachorganisation der europäischen Dachorganisationen, würde möglicherweise den Ausschlag zugunsten einer verfassunggebenden Versammlung und gegen den Aufbau von Institutionen geben und so wäre die Perspektive einer Europäischen Föderation in greifbare Nähe gerückt und vielleicht so um 1950 Realität! Ein Bote riss mich aber aus diesem Traum, ich werde dringendst vor dem Saal erwartet. Dort erwartete mich ein erregter, verärgerter Hendrik Brugmans: was mir einfalle, seinen Sekretär Silva nicht auf die Kandidatenliste zu nehmen! Ich antwortete, dass Letzterer für mich als Anhänger der ‚Institutionalistes‘ nicht tragbar sei und zudem als Franzose auf deren Liste gehöre. Den staunenden Gesichtsausdruck werde ich nicht vergessen: Offensichtlich hatte er keine Ahnung von ‚Institutionalistes‘ und ‚Constitutionalistes‘! Der sportliche ehemalige Chef des NL-Widerstandes packte mich am Arm und ging mit mir in die dunkelste Ecke eines langen Korridors und ich war auf alles gefasst. Offenbar wollte er mich jedoch nur so lange hinhalten, bis sein Vertrauensmann innerhalb der Schweizer Vertretung (ich weiß noch heute nicht, wer es war) meinen ganzen Vorschlag zu seinen Gunsten umgekrempelt hatte.

Anderntags beim Hotel-Frühstück versuchte man noch, mir Schuldgefühle einzuflößen: Raymond Silva habe meinetwegen nachts eine Herzattacke gehabt! Wie auch immer: Die Chance war vertan, die ‚Institutionalistes‘ hatten die Mehrheit, es kam die Montanunion, EURATOM usw. bis zum gescheiterten Verfassungsentwurf.

1963 kam es endlich wieder zu einer Aussprache zwischen mir und dem inzwischen Rektor vom Collège Européen von Brügge gewordenen Hendrik Brugmans. Ich fragte ihn, wer von uns beiden nun Recht behalten habe. Seine Antwort lautete: „Nous avons perdu quinze ans“. Und ich drückte die Hoffnung aus, nicht ALLES verspielt zu haben.

Nun, seither sind wieder fast 40 Jahre vergangen und inzwischen hat Europa eine Regierung, ein mehr oder weniger legiferierendes Parlament und sogar eine eigene Währung, vor allem eine riesige Bürokratie, eine inkonsequente Außenpolitik, nach Osten umstrittene Grenzen und last but not least keine Verfassung.

Bis Mai 1948 war die politische Linie der UEF, jener aus ‚Hertenstein‘ hervorgegangenen Dachorganisation eindeutig. In langem, hartnäckigen Ringen hatte sie sich zum Ziel eines Bundesstaates nach eidgenössischem Vorbild, mit neutraler Außenpolitik, gemeinsamer Wirtschaft, Währung und Armee und mit dem Endziel einer Welt-Konföderation bekannt und erhoffte sich die Erfüllung dieses Programmes durch einen Willensakt, welcher in die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung münden sollte. Anlässlich des Haager Kongresses im Mai 1948 scheiterten diese Pläne am Willen der Exponenten der anderen Richtung.

Im Jahr 2001 von Frank Niess mit dem Titel „Die Europäische Idee“ verfassten Buch ist die Geschichte der Europäischen Einigung und ihr damaliges Scheitern detailliert recherchiert. Ich möchte dieses Buch ausdrücklich zur Lektüre empfehlen. Aus der erhofften Konstituante wurde der ‚Europa-Rat‘.

1948, während des Europa-Kongresses in Rom, wurden alle Hoffnungen der Konstitutionalisten endgültig zerstört und der Europa Prozess begann seine mühevolle Entwicklung bis heute. Die heutige NEBS, Neue Europäische Bewegung der Schweiz, ist ein Konglomerat diverser Europa-Organisationen. Ihr Kern, die Europa-Union, war Organisatorin der Konferenz von Hertenstein. Zusammen mit ihrer Schwesterorganisation ‚Europa-Union Deutschland‘ welche im Gefolge von Hertenstein gegründet wurde und der ‚Union der Europäischen Föderalisten‘, jener Dachorganisation, welche aus der Konferenz von Hertenstein hervorgegangen ist, gedenkt sie nun vom 22. bis 24. September 2006 in Zürich und Hertenstein sowohl der Churchill-Rede und der Hertensteiner Konferenz.

Geht es an, diese zwei im Ansatz antagonistischen Ereignisse, nach außen aber das gleiche Ziel der Europäischen Einigung (ein Gummi-Begriff) verkündend, gleichzeitig und von den gleichen Instanzen zu feiern?

Nach kurzem Zögern lässt sich sagen: Ja, es geht!

Auch der Konferenz von Hertenstein war ein hartes Ringen um disparate Zielsetzungen voraus gegangen und man einigte sich zur Zusammenkunft, indem man den gemeinsamen Nenner zum Programm machte. Im europäischen Entwicklungsprozess musste die europäische Dachorganisation UEF und mit ihr die angeschlossenen Bewegungen noch einige Kompromisse schließen und seit dem Haager Kongress im Mai 1948 ist auch sie ein Kind beider Ereignisse vom September 1946.

Ich könnte den Bogen noch weiter spannen (der Gründer und langjährige Präsident der EU wird sich im Grabe umdrehen!): Das uns erwartende Bankett im Hotel Hertenstein wird auf der Terrasse nicht des Restaurants Europa, wie man erwarten könnte, sondern im Restaurant Karl serviert. Über dem Namen prangt eine Kaiserkrone. Hertenstein ist nicht nur Synonym für die modernen Europa-Bestrebungen, es war auch nach dem Ersten Weltkrieg zeitweiliges Refugium der geflüchteten k. k. Herrscherfamilie mit Kaiser Karl. Und nun erinnern wir uns wieder des unglücklichen Kronprinzen Rudolf. Der Sohn ebendieses Kaisers Karl ist aber niemand anderes als der ehemalige Kronprinz Otto von Habsburg, Nachfolger und Präsident der Paneuropa-Union!

Wenn jedoch die NEBS heute weder den « Institutionalisten » noch den « Konstitutionalisten » zugerechnet werden kann, so verbleibt ihr immerhin eine wichtige schweizerische Errungenschaft, welche sie dem Abendland verpflichtet ist, weiterzugeben: Es ist dies das Prinzip des Föderalismus. Befassen wir uns kurz damit.

Was ist Föderalismus und weshalb erwähnen wir ihn? Das Prinzip der Gleichheit, von den Vereinigten Staaten verkündet, über die Französische Revolution ein für alle Mal von der abendländischen Gemeinschaft rezeptiertes Gut, ist eine conditio sine qua non jeder alten oder neu zu formenden Gesellschaft.

Nun, was die Gleichheit zwischen Menschen ist der Föderalismus zwischen Nationen. Ist es unser Ziel, Völker und Nationen mittels eines zwischenstaatlichen Systems zu einigen, können und dürfen wir dieses Gleichheitsprinzip nicht ignorieren. Konflikte, spätere Bürgerkriege wären die Folgen mangelnder autonomer Freiheiten und Chancen und Machtgleichheiten.

In seiner reinen Form ist der Föderalismus ein genaues Gleichgewicht zwischen den Interessen der Mitgliedstaaten und jenen der Gesamtheit, ein Garant der Stabilität, des inneren Friedens und des Rechtes. Dieses Prinzip geht einher mit unserem Wirken für eine Bundesform Europas. Und wenn der Föderalismus sich nicht selbst in Frage stellen will, muss er integral, d.h. auf allen Integrationsstufen optimiert sein, angefangen bei der Gemeindeautonomie. Alles was die Gemeinde allein zu verwalten vermag, gehört ihrem Rechtsbereich und ihrem Pflichtenkreis an. Alles was ihre Möglichkeiten übersteigt, wird dem nächsthöheren Verwaltungsorgan delegiert usw.

Vielleicht geht die Idee, den Föderalismus geografisch auf Europa auszudehnen, auf den Willen zurück, eine Schicksalsgemeinschaft von Staaten umzuformen, deren multikultureller und multiethnischer Zusammenhang sich auf ein System von Souveränitäten stützte, die in der Hand eines einzigen Monarchen vereinigt waren. Wir sprechen vom Österreichisch-Ungarischen Kaiserreich, einem Mosaik unterschiedlichster und auseinanderstrebender Völker, welche im Ersten Weltkrieg, angesichts eines gemeinsamen Feindes, nach Auffassung gewisser Politiker zusammengeschweißt worden wären, aber durch die Niederlage vollständig auseinandergerissen wurden.

Die in den Vereinigten Staaten entwickelte und 1848 in die Eidgenössische Verfassung Eingang gefundene Ideologie des Föderalismus’ hat sich in der Vielvölker-Schweiz mit ihren vier Sprachen seit über 150 Jahren bewährt. Die sogenannte „Europäische Integration“ zu vollenden ist ungleich schwieriger und wird nur durch konsequente Anwendung des integralen Föderalismus’ gelingen, einziger Garant der Dauer. Das ist, was Victor Hugo meinte, als er prophezeite: „Die Schweiz wird in der Geschichte Europas das letzte Wort haben“ („letzte“ im übertragenen Sinn - so wie es aussieht, auch wörtlich zu nehmen).

Zugleich ist diese Prophezeiung aber auch eine Verpflichtung: Die NEBS muss unsere Regierung, den Bundesrat veranlassen, diesen Föderalismus einzubringen. Dies ist unsere historische Mission und Pflicht. Dies ist unser Beitrag zur Verfassung dieses Kontinentes und zugleich unser größter Trumpf.

Die moderne Form des Föderalismus’ entstand mit der Schaffung der USA im Jahr 1787. Dank dieser Ideologie und später sich weiterentwickelter Anwendung demokratischer Rechte, ist es diesem Bundesstaat gelungen, die Vielfalt von Völkern zu integrieren um heute die größte Macht dieser Welt zu sein.

Die Schweiz, Erbe dieser Errungenschaft, mit 22 souveränen Staaten und vier verschiedenen Sprachen Modell für Europa, kennt seit 1848, d.h. seit Einführung des föderativen Prinzips in seine Verfassung, keinen Bürgerkrieg mehr.

Alles in allem geht Europa, das Pferd am Schwanz aufgezäumt, auf einem großen Umweg, mit demokratischen Defiziten und um Jahrzehnte später als es möglich gewesen wäre einer Zukunft entgegen, die aus unserem Kontingent eine Friedensoase, eine Wirtschaftsmacht, eine den Weltfrieden mitbestimmende entscheidende Kraft, ein Prototyp einer Staatenorganisation machen kann. Wir alle, die heute lebende Generation, sind aufgerufen, unsere Pflicht der Geschichte gegenüber wahrzunehmen, diese gewaltige Aufgabe zu vollenden, auf dass unser Europa, zusammen mit den nach unserem Vorbild geeinigten übrigen Staaten dieser Erde, eine Weltinstitution bilden kann, welche auf alle Zeiten den Weltfrieden zu sichern imstande sein wird. Der Mensch muss vor seinesgleichen geschützt werden. Weil man den Menschen nicht ändern kann, lasst uns die Institutionen ändern. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen. Aber aus der Geschichte können und müssen wir lernen. Unser Beitrag zu Europa soll durch eine Rückbesinnung auf die Werte der Hertensteiner Deklaration von 1946 darin bestehen, die damals gewonnenen Einsichten in den immer noch hängigen Einigungsprozess einzubringen, Europa von unten nach oben und föderalistisch zu formen. ‚Let‘s Europe Arise’, aber als Bundesstaat, mit einer Verfassung welche volksnah vom Europäischen Parlament ausgearbeitet wird.

‚Ziehet den Zaun nicht zu weit‘ könnte eine weitere Forderung unserer Bewegungen sein: Niklaus von Flüe mahnte die alten Eidgenossen, ihr Territorium nicht zu weit auszudehnen. Und vergessen wir dabei nie, dass das gemeinsame Band eines Bundes desto solider hält, je homogener es zusammengesetzt ist. Gemeinsame Vergangenheit, Kultur, Philosophie und Rechtsgeschichte sind die Basis des „lien fédéral“. Die Feier in Hertenstein hat den internationalen Teilnehmern die Gelegenheit geboten, gemeinsam Ideen zur künftigen Entwicklung Europas zu entwerfen. Es ist zu hoffen, dass diese eine ähnlich große Resonanz und positive Einflussnahme auf Europa finden werden wie 60 Jahre zuvor! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


Dieses Ansprache gehört zu den Dokumenten, welche ich bei der Erstellung meines Buches „Europa ist für alle da!“ mit als Anhang verwendet habe und später dann dem Leser „online“ zur Verfügung stellte.

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  1. Schweizer Bürgerkrieg (03.11.1847-29.11.1847) ↩︎