Anhang 16

Kieler Programm für Europa (27. Juni 1978)

„An der Dichte des Widerstandes ermißt sich der Fortschritt von Veränderungen.“ (Jean Monnet 1980: 421)

Das Kieler Programm wurde auf dem XXIV. Ordentlichen Kongress der EUROPA-UNION am 25. und 26. Juni 1978 in Kiel beschlossen und zählt mit zu den Höhepunkten der programmatischen Arbeit der Europäischen Föderalisten in Deutschland.

Noch heute kann man sich daran orientieren und vor allem auch daraus Ideen für künftige Diskussionen und Forderungen schöpfen. Sie finden das Kieler Programm auch bei Gerhard Eickhorn (1993: 93-104).

Kieler Programm für Europa

In der Perspektive der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament bekräftigt die EUROPA-UNION Deutschland erneut ihre Überzeugung,

I. Föderalistische Grundsätze

Die EUROPA-UNION hebt besonders folgende föderalistische Grundsätze als Wegweiser für die Europapolitik heraus:

In diesem Zusammenhang ist jedoch eine klare Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg einerseits und der Europäischen Kommission für Menschenrechte sowie dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg andererseits erforderlich, die insbesondere eine Schwächung der Wirksamkeit der beiden zuletzt genannten Institutionen verhindert.

II. Föderalistische Politik

A. Die Ergebnisse der europäischen Einigungspolitik

Die Europa-Union ist überzeugt, dass die Europäische Gemeinschaft nach wie vor für die Lösung der anstehenden Probleme den weitaus besten Rahmen bildet. Diese Überzeugung gründet sich auf die Erfolge der europäischen Einigungspolitik, deren bisher weitest gehende Verwirklichung eben in und durch die Europäische Gemeinschaft ermöglicht wurde, wobei auch die Beiträge des Europarates - des Europas der Zwanzig - unverzichtbar sind. Diese Erfolge beruhen zu einem großen Teil auf der Anwendung föderalistischer Grundsätze.

Die EG hat also die friedliche Konflikt- und Problemlösung ermöglicht, die Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten vergrößert und die gemeinschaftliche Wahrnehmung von Souveränitätsrechten auch dort möglich gemacht, wo kein europäischer Staat sie mehr allein wahrnehmen kann. Der Europarat hat dazu wichtige Vorarbeit geleistet; er ist die unverzichtbare Klammer zu all den europäischen Demokratien, die nicht Mitglied der Europäischen Gemeinschaft sein können oder wollen.

So gesehen ist das Ergebnis des europäischen Einigungsprozesses - trotz seiner Unvollkommenheit - ein Fortschritt der politischen Kultur.

B. Die Europäische Gemeinschaft - heute

Diesen Fortschritten gegenüber wäre ein Rückfall in staatlichen Nationalismus, wie er sich insbesondere in wirtschaftlichem Protektionismus oder in der Verfolgung bilateraler Sonderbeziehungen zeigt, eine gefährliche Alternative.

Die wirtschaftlichen Kräfte, von deren gemeinsamer und solidarischer Entwicklung Wohlstand und soziale Sicherheit abhängen, unterliegen heute weltweiten Einflüssen und Bedingungen. Nationale Maßnahmen in der Wirtschaftspolitik versagen immer häufiger, die ökonomische Wirklichkeit ist transnational geworden. Inflation und Arbeitslosigkeit sowie die Folgen der Wirtschaftsentwicklung wie Umweltbelastung übertragen sich unmittelbar von einem Land auf das andere, besonders in so hoch entwickelten Gebieten und bevölkerungsreichen Räumen wie den Ländern der Europäischen Gemeinschaft. Den nationalen Regierungen fehlt es - auf sich allein gestellt und ohne festen gemeinsamen Rahmen - an Gewicht, Kraft und Vermögen, den Zusammenbruch des Währungssystems zu verhindern oder die notwendige Versorgung mit Lebensmitteln, Rohstoffen und Energie zu sichern. Die Europäische Gemeinschaft kommt nicht nur den neun Mitgliedstaaten zugute, sondern ist für das ganze demokratische Europa ein unverzichtbarer stabilisierender Faktor.

Nur durch die Einheit kann die Sicherheit Europas garantiert und die Handlungsfähigkeit vergrößert sowie die Unterlegenheit gegenüber der UdSSR verringert werden. Nur durch Zusammenarbeit können die Beziehungen zu den USA zur gleichwertigen Partnerschaft ausgebaut werden. Nur durch Fortschritte auf dem Wege zur Einheit kann Europa seinen vollen Beitrag zur internationalen Zusammenarbeit und zum Weltfrieden leisten. Dabei muss die Europäische Gemeinschaft sowohl ein überzeugendes Beispiel als auch ein entscheidender Schritt auf diesem Wege sein.

Schließlich hängen auch die Legitimität, die Überzeugungskraft und die innere Stärke der europäischen Demokratien von der Fähigkeit ab, die grundlegenden Bedürfnisse der europäischen Bürger nach Freiheit, Wohlstand, persönlicher Identität, kultureller Entwicklung, Frieden und Sicherheit gemeinschaftlich und demokratisch zu erfüllen.

Der bisherige Verlauf der europäischen Einigung zeigt, dass es keinen automatischen Weg zur Einigung Europas gibt.

Weiterer Fortschritt bedarf der Mobilisierung des politischen Willens und der verantwortlichen Mitwirkung des wahren Souveräns, nämlich der Bürger. Eine Ausschaltung dieser Mitwirkung behindert ebenso den Reinigungsprozess wie eine grundsätzliche Ablehnung der europäischen Integration, wie unterschiedliche Zielvorstellungen ohne Konsensmöglichkeiten oder divergierende Interessen.

C. Die Gemeinschaft von morgen

Das Ziel der Europa-Union bleibt der europäische Bundesstaat, der nach föderalistischen Prinzipien aufgebaut ist. Er regelt klar die Verantwortlichkeit zwischen den verschiedenen Ebenen im politischen Entscheidungsprozess. Eine föderale Struktur ist nach Auffassung der europäischen Föderalisten die einzig adäquate Lösung für den Versuch, die freiheitlich-parlamentarisch-demokratisch verfassten Staaten Europas in einer solidarischen Gemeinschaft zusammenzuführen, die ihren Bürgern mehr demokratische Mitwirkung ermöglicht. Allein die bundesstaatliche Organisation gibt den bestehenden Grundtendenzen unseres Zeitalters den freien Spielraum für ihre volle Entfaltung: Die Einheit im Ganzen unter Stärkung und Sicherung der Vielfalt der Teile. Dabei gibt es für Europa und für den europäischen Einigungsprozess mit seinen aktuellen Aufgaben - Erweiterung der EG, Aufbau der Wirtschafts-, Währungs- und Finanzunion, Entwicklung des Sozialsystems und eines Systems gemeinsamer Grundrechte und Freiheiten bis hin zur Europäischen Union - keine Musterlösungen. Am Anfang aller Überlegungen zur künftigen Gestalt der Europäischen Union muss festgestellt werden, dass sich die Organstruktur der Europäischen Gemeinschaft bewährt hat. Aufgabe realistischen Nachdenkens über die Gemeinschaft kann nicht der Entwurf einer völligen Neuordnung sein, sondern muss die behutsame, aber zielstrebige Weiterentwicklung des Bestehenden sein. Bei aller Flexibilität, die dieser Prozess erfordert, müssen freilich die föderalistischen Prinzipien, deren Richtigkeit der bisherige Einigungsprozess erwiesen hat, Richtschnur des Handelns bleiben. Dabei darf die europäische Einigungspolitik nicht auf die Lösung politischer und wirtschaftlicher Probleme beschränkt bleiben. Sie muss zu einer Gemeinschaft der Bürger und Staaten führen, die weit mehr als bisher den kulturellen und geistigen Bedürfnissen der Europäer Rechnung trägt und die ihre Entfaltungsmöglichkeit vergrößert.

III. Forderungen zur Europapolitik

A. Europäische Union

Der Ausbau der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union ist dringend nötig, da die Gemeinschaft nicht als Halbintegration lebensfähig gehalten werden kann. Die Europa-Union unterstreicht nachdrücklich die umfassende Konzeption des Tindemans-Berichts und fordert die Staats- und Regierungschefs auf, ihre eigenen Absichtserklärungen zur Europäischen Union in politische Fortschritte auf allen Gebieten der Europäischen Union umzusetzen.

Entscheidender nächster Schritt zur Europäischen Union ist die Wahl des Europäischen Parlaments.

Mit der Direktwahl des Europäischen Parlaments wird die Europäische Gemeinschaft in eine neue Phase eintreten, die den europäischen Bürgern eine einmalige Chance bietet, die aber auch von Risiken und Enttäuschungen begleitet sein kann. Auf der Grundlage der Prinzipien des Föderalismus fordert die Europa-Union:

  1. Das Europäische Parlament muss die Politik der Europäischen Gemeinschaft kontrollieren und mitbestimmen. Die Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments sind gegenüber der Kommission, dem Ministerrat und dem Europäischen Rat zu verstärken sowie auf das Gebiet der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) auszudehnen. Die Mitbestimmung des Europäischen Parlaments erfordert
  1. Das Europäische Parlament muss dabei eine Strategie entwickeln, mit der es folgende Ziele parallel anstrebt:

a) Es muss bestehende Kompetenzen (Kontrollbefugnisse Haushaltsrechte) entschiedener im Interesse der europäischen Bürger nutzen. In geeigneten Fällen muss es auch von seinem Recht, einen Misstrauensantrag gegen die Kommission einzubringen, Gebrauch machen.

b) Es muss den politischen und rechtlichen Spielraum, der innerhalb oder neben den Verträgen besteht, Schritt für Schritt ausweiten, vor allem muss es seine politische lnitiativfunktion weiterentwickeln.

c) Es muss konzeptionell und politisch Vertragsänderungen vorbereiten, die seine Kompetenzen besonders in den Bereichen erweitern und verstärken, in denen die Gemeinschaft über eigene Instrumente verfügt.

d) Es muss auf eine eindeutige Kompetenzabgrenzung zwischen nationaler und europäischer Ebene drängen; für die europäische Ebene muss es die ausschließliche parlamentarische Kontrolle beanspruchen.

e) Es muss als verfassungsentwickelnde Versammlung ständig an der Gestaltung der europäischen Verfassungsordnung mitwirken und die Diskussion darüber vorantreiben.

3) Das Europäische Parlament muss mit Mut, Augenmaß und Entschlossenheit und unter Berücksichtigung der Lebenschancen künftiger Generationen die wirtschaftlichen und sozialen Sorgen der europäischen Bürger artikulieren;

auf die Verabschiedung einer verbindlichen Menschen- und Bürgerrechtscharta, die auch soziale und kulturelle Rechte berücksichtigt, hinwirken; die Vorstellungen der politischen und gesellschaftlichen Kräfte zum Ausdruck bringen, das gegenseitige Verständnis fördern und sich um ihre Annäherung bemühen.

  1. Mit der Direktwahl muss sich auch die Stellung der Kommission wandeln. Sie sollte als Verbündeter des Europäischen Parlaments ihre im Vertrag angelegte Funktion als Motor der Gemeinschaftspolitik stärker nutzen.
B. Wirtschafts-, Währungs-, Finanz- und Sozialunion

Keines der europäischen Länder kann für sich allein Wohlstand und soziale Sicherheit auf Dauer sichern. Wirtschaftliche und soziale Probleme - Inflation, Arbeitslosigkeit, strukturelle Schwierigkeiten - betreffen die Gemeinschaft als Ganzes. Versuche, sie durch die Errichtung protektionistischer Barrieren zwischen den Mitgliedstaaten zu lösen, würden zum Nachteil aller gereichen.

Um die wirtschaftliche und soziale Lage in Europa zu verbessern, fordert die Europa-Union in Anwendung der Prinzipien wirtschaftlicher und sozialer Solidarität

zur Wirtschaftsunion:

Ziel der Wirtschaftsunion ist es, einen verbindlichen Rahmen für die Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft zu schaffen. Getreu dem föderalistischer Prinzip geht es auch hier darum, die Einheit in der Vielfalt zu gewährleisten. Das schließt sowohl eine zentralistische Planwirtschaft als auch eine willkürliche Mischung isolierter nationaler Politiken aus. In der nächsten Zukunft sind insbesondere Maßnahmen auf folgenden Gebieten erforderlich:

a) Es sind einheitliche Rahmenrichtlinien für die sektorale und regionale Strukturpolitik der Mitgliedstaaten zu erarbeiten. Sie sind mit Gemeinschaftsprogrammen zu verbinden, welche die für alle Mitgliedstaaten gemeinsamer wirtschaftlichen Probleme zu lösen versuchen.

b) In diesem Rahmen ist besonders eine europäische Agrar- und Industriepolitik zu betreiben, die einerseits schrumpfende Wirtschaftszweige sinnvoll und ohne verschwenderischen Subventionswettlauf umstrukturiert und andererseits Wachstumsbranchen auf der Grundlage einer europäischen Konzeption fördert.

c) Die nationalen Rechtssysteme sind in noch größerem Maße als bisher in Bezug auf diejenigen Vorschriften und Praktiken zu überprüfen, die absichtlich oder ungewollt Personen, Unternehmen und Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten diskriminieren. Auf ihren Abbau ist hinzuwirken.

d) Der Aufbau der Wirtschafts- und Währungsunion muss begleitet sein von einer Harmonisierung der Steuersysteme und der Systeme der sozialen Sicherung mit dem Ziel, gravierende Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden.

e) Bei allen Maßnahmen auf dem Wege zur Wirtschaftsunion muss sich die Europäische Gemeinschaft auch ihrer Verantwortung für die Aufrechterhaltung eines freien Welthandels und für die Integration der Entwicklungsländer in das Weltwirtschaftssystem bewusst bleiben. Versuchen, die gegenwärtigen wirtschaftlichen Probleme durch Protektionismus und Diskriminierung gegenüber Drittländern lösen zu wollen, muss daher entschieden entgegengetreten werden.

zur Währungsunion:

Ziel der Währungsunion ist es, eine gemeinsame europäische Währung für den einheitlichen europäischen Wirtschaftsraum mit einer gemeinschaftlichen Geld- und Währungspolitik zu schaffen. Ein solcher Schritt fördert die europäische Einigung durch den Abbau der Währungsgrenzen und schützt die Gemeinschaft wie ihre Mitgliedstaaten besser gegen Störungen des Weltwährungssystems.

Die Währungsunion sollte schrittweise verwirklicht werden. Mit den ersten Schritten zur Währungsunion kann jetzt schon begonnen werden, wenn dafür der Weg über die Schaffung einer europäischen Parallelwährung gewählt wird.

a) Der Europäische Fonds für Währungszusammenarbeit muss zu einem Reservefonds, danach zu einer gemeinsamen Reservehaltung als Vorläufer einer gemeinsamen Reservebank und schließlich zu einer unabhängigen europäischen Zentralbank ausgebaut werden.

b) Auf der Grundlage der Europäischen Rechnungseinheit wird parallel zu den Währungen der Mitgliedstaaten eine kaufkraftstabile Gemeinschaftswährung geschaffen, die von der Reservebank und der künftigen Europäischen Zentralbank verwaltet wird.

c) Die europäische Parallelwährung wird zunächst für die Transaktionen der Zentralbanken und öffentlichen Institutionen untereinander benutzt, dann für private grenzüberschreitende Transaktionen und schließlich im Endstadium für alle Transaktionen innerhalb der Mitgliedstaaten als auch international zugelassen.

zur Finanzunion:

Ohne einen Finanzausgleich zur Verringerung des wirtschaftlichen und sozialen Gefälles ist kein staatliches Gemeinwesen auf Dauer lebensfähig. Das „Zahlmeisterargument" ist sachlich falsch, politisch kurzsichtig, unsolidarisch und unvereinbar mit den föderalistischen Prinzipien. Nach Auffassung der Europa-Union gilt es, folgende Maßnahmen als Ausdruck europäischer Solidarität zu ergreifen:

a) Das Budget der Gemeinschaft ist Schritt für Schritt zu erhöhen, um einen wirksamen Finanzausgleich nach dem Modell bundesstaatlicher Finanzordnung zu ermöglichen. Diese Mittel müssen vor allem dazu verwandt werden, die Infrastruktur der benachteiligten Regionen zu verbessern. Dabei müssen nationale Anstrengungen im Sinne einer Regionalpolitik, die diesen Namen verdient, sinnvoll ergänzt werden.

b) Alle Gemeinschaftspolitiken und -instrumente (z.B. Agrarpolitik) sind auf ihre regional- und sektorpolitischen Auswirkungen zu überprüfen.

c) Als besondere Aktion im Rahmen der Finanzunion muss ein Solidaritätsfonds nach dem Beispiel des Marshallplans für alle benachteiligten Mittelmeerregionen (Mittelmeerfonds) der erweiterten Gemeinschaft geschaffen werden.

zur Sozialunion:

Die Sozialunion muss einen zentralen Bestandteil der Europäischen Union bilden. Die Maßnahmen zur Wirtschafts-, Währungs- und Finanzunion müssen auch der Verwirklichung der Sozialunion dienen. Dies sollte auf der Grundlage der Sozialcharta des Europarates und der Beschlüsse des Rates der Gemeinschaft geschehen. Vordringlich sind die Gemeinschaftsinstrumente einzusetzen, um die Arbeitslosigkeit, insbesondere bei den Jugendlichen zu verringern; die Lebensbedingungen der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien zu verbessern.

Ferner sind die allgemeinen Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Gemeinschaft sowie die Systeme der sozialen Sicherung in den Mitgliedsländern schrittweise zu verbessern und einander anzugleichen.

C. Die Europäische Gemeinschaft als weltpolitischer Partner

Europa ist gefordert, sich seiner weltweiten politischen Verantwortung gemäß seiner geschichtlichen Tradition und seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten bewusst zu werden. Dies gilt insbesondere für die atlantische Partnerschaft und das Verhältnis zu den Staaten der Dritten Welt.

  1. Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft

Die Aufnahme neuer Mitglieder in die Europäische Gemeinschaft entspricht den föderalistischen Kriterien der Solidarität. Die beitrittswilligen Staaten müssen die Möglichkeit erhalten, in einem gemeinschaftlichen Rahmen gleichberechtigt an der Lösung der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Probleme, die auch sie unmittelbar betreffen, mitzuwirken.

Die Erweiterung erfordert für die Gemeinschaft wie auch für beitrittswillige Staaten gravierende Anpassungen. Die Europa-Union bekräftigt ihr positives Votum zur Erweiterung der Gemeinschaft, das sie auf ihrem XXIII. Ordentlichen Kongress vom 3. bis 4. Dezember 1977 beschlossen hat und erklärt sich bereit, für diese Politik einschließlich ihrer finanziellen und institutionellen Konsequenzen einzutreten. Sie fordert deshalb:

a) Das bestehende Gemeinschaftsinstrumentarium muss daraufhin überprüft werden, ob es für eine Gemeinschaft der - zunächst - Zwölf angemessen ist. Die Substanz des Erreichten darf dabei nicht angetastet, die Modalitäten müssen angepasst werden.

b) Die Anpassung muss schon vor dem eigentlichen Beitritt eingeleitet werden. Die Beitrittsverhandlungen selbst sollen in partnerschaftlicher Offenheit die Probleme für die Gemeinschaft und für die Beitrittskandidaten klarlegen.

c) Die europäischen Demokratien, die nicht Mitglied der Gemeinschaft sein wollen oder können, sollen über den Europarat an der Gestaltung Europas mitwirken.

  1. Europäische Außenpolitik

Europäische Föderalisten sind gegen europäischen Isolationismus. Föderalistische Solidarität fordert vielmehr den kontinuierlichen Ausbau einer weltweiten Friedens- und Sozialordnung, an der die Europäer aufgrund ihrer Traditionen und Erfahrungen und durch ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten mitzubauen verpflichtet sind.

Eine stärkere weltpolitische Aktivität entspricht auch der europäischen Interessenlage und dem Willen zur Entwicklung der eigenen Identität. Deshalb sind aus der Sicht der Europa-Union folgende Schwerpunkte zu setzen:

a) Die mit der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) begonnene Koordinierung der Außenpolitik muss intensiviert, thematisch erweitert, vertraglich gesichert und in das Verfassungskonzept der Europäischen Union eingeordnet werden.

b) Die atlantischen Beziehungen sind zu einer engen Partnerschaft auszubauen. Zwischen der Gemeinschaft, den USA, Japan und anderen westlichen Industriestaaten müssen effiziente Beratungs- und Verhandlungsmechanismen errichtet werden.

c) Die Europäische Gemeinschaft muss eine führende Rolle im Prozess der Entspannung zwischen Ost und West übernehmen, um durch verstärkte Zusammenarbeit den Frieden in Europa zu stabilisieren und den freien Austausch von Menschen, Informationen und Meinungen zu ermöglichen.

d) Die Europäische Gemeinschaft muss ihre Stellung in der Weltpolitik durch eine gemeinsame Politik ihrer Mitgliedstaaten im Rahmen der Vereinten Nationen weiter verstärken und für Demokratie und Selbstbestimmung eintreten.

  1. Partnerschaft zwischen Nord und Süd

Die weltweite wirtschaftliche Rezession und die Auswirkungen der Ölkrise haben die Entwicklungsländer in der Mehrzahl vor noch größerer Probleme gestellt als die Industriestaaten. In der Zusammenarbeit mit den Staaten der Dritten Welt müssen die Europäer nach dem Vorbild des Abkommens von Lomé beweisen, dass praktizierte Solidarität nicht an den Grenzen Europas endet. Angesichts dieser Verpflichtung zur Beseitigung des Entwicklungsrückstandes in der Dritten Welt fordert die Europa-Union:

a) Erhöhung der Anteile für Entwicklungshilfe sowohl der nationalen Haushalte als auch vor allem des Haushaltes der EG gemäß den Empfehlungen der Vereinten Nationen;

b) Verbesserte Instrumente der EG-Kooperationspolitik.

  1. Europäische Sicherheitspolitik

Europäische Sicherheitspolitik stützt sich einerseits auf Entspannungspolitik zwischen den unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systemen in Ost und West sowie andererseits auf eine wirksame Verteidigungspolitik im Rahmen des westlichen Bündnisses. Im Interesse des Friedens muss die begonnene Entspannungspolitik fortgesetzt werden, um die politischen Voraussetzungen für ein Ende des Wettrüstens auf beiden Seiten zu schaffen. Hierfür bilden u.a. die Ergebnisse der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa eine wirksame Grundlage, die weiter ausgebaut werden muss.

Angesichts dringender weltpolitischer Probleme ist eine Politik der Rüstungsbeschränkung und Abrüstung ein Gebot der Stunde.

Bemühungen für eine Politik zur Beendigung des Wettrüstens müssen sich an dem Prinzip des qualitativen und quantitativen Gleichgewichts ausrichten.

Vor allem für Europa, wo sich die beiden Militärblöcke hochgerüstet unmittelbar gegenüberstehen, sind Fortschritte bei der Beendigung des Wettrüstens von besonderer Bedeutung.

Die Sicherheitspolitik beruht für die europäischen Demokratien auf folgenden Grundlagen:

a) Zusammenarbeit der westlichen Demokratien in der Atlantischen Allianz;

b) Verstärkung der Zusammenarbeit der westeuropäischen Staaten im Rahmen der Allianz, um die besonderen europäischen Probleme und Vorstellungen wirksam zur Geltung bringen zu können;

c) die ständig wachsende politische und ökonomische Bedeutung der Europäischen Gemeinschaft muss auch in der gemeinsamen Formulierung sicherheitspolitischer Vorstellungen ihre notwendige Ergänzung finden;

d) Fortsetzung der Bemühungen für eine Entspannung zwischen Ost und West.

IV. Der nächste Schritt: Wahlen zum Europäischen Parlament

Die allgemeine, freie und geheime Wahl ist das zentrale Instrument der Beteiligung der Bürger an der Gestaltung des öffentlichen Lebens. Es ist das entscheidende Mittel zur Demokratisierung und zur Begrenzung der Macht. Zugleich erfordert die Wahl die Existenz gesellschaftlicher Organisationen wie Parteien und Verbände, die zur Kommunikation und Konsensusbildung in jeder Demokratie unverzichtbar sind.

Die erste europäische Wahl erhält durch ihre Originalität zugleich den Charakter eines Volksentscheids über die Politik der europäischen Integration.

Die Europa-Union appelliert deshalb, als deutscher Zweig der Union Europäischer Föderalisten, an alle Bürger und Verbände, sich aktiv an der Vorbereitung dieser Wahl zu beteiligen und ihre Mitbürger und Mitglieder über die außergewöhnliche Bedeutung dieser ersten Wahl aufzuklären. Sie fordert außerdem die Verantwortlichen der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit auf, hierzu einen entscheidenden Beitrag zu leisten. Je größer die Wahlbeteiligung, um so größer die Autorität und die Handlungsfähigkeit des Europäischen Parlaments.

Insbesondere appelliert die Europa-Union an die Parteien, einen fairen Wahlkampf zu führen und die geeignetsten Persönlichkeiten für das Europäische Parlament aufzustellen.

Der Aufbau des föderalen und demokratischen Europa ist die wichtigste Aufgabe des nächsten Jahrzehnts, von seinem Erfolg hängt der Erfolg auf vielen anderen Gebieten ab.

Nach dem Zeitalter der Weltkriege, die in Europa begannen, ist die erste europäische Wahl ein Jahrhundertereignis.


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